Der Puppengräber
verloren.
Ben konnte er getrost erzählen von der Höhle, die Paul Lässler und er sich gegraben hatten, tief in das Wurzelwerk einer uralten Buche, der ein Blitz den mächtigen Stamm gespalten hatte.
Den Winter 43 hatten sie da gespielt, zu einer Zeit, als in einigen Häusern schon gewispert wurde, niemand könne seines Lebens mehr sicher sein, wenn unschuldige Kinder wie Christa von Burg an einer Lungenentzündung sterben mussten, nur weil sie sich etwas in den Mund steckten, vor dem andere sich ekelten.
Jakob und Paul wussten nichts von der dumpfen Furcht, die sich vor allem in den jüdischen Familien Stern und Goldheim ausbreitete. Die beiden Jungs wurden von anderen Ängsten geplagt, wenn sie sich dick vermummt in das Erdloch zurückzogen. Sie erzählten sich wilde Geschichten von den älteren Brüdern, die in Russland und Frankreich geblieben waren. Vermisst oder gefallen für Ehre und Vaterland. Pauls Bruder ebenso wie die beiden von Jakob.
Paul meinte, dass eines Tages sie an der Reihe seien, Helden zu werden. Nur Toni von Burg dürfe wahrscheinlich nicht. Weil Tonis Vater zu Pauls Mutter gesagt hatte: «Ehe sie mir den auch noch wegholen, hacke ichihm höchstpersönlich einen Arm und ein halbes Bein ab. Dann macht er anderswie Karriere.»
Und bei allem Mut, aller Tapferkeit und allem Glauben an den Führer, ein bisschen bange war ihnen schon vor dem Heldentum, sie waren doch erst elf und zwölf. Dabei fürchteten sie weniger den Feind, der hatte kein Gesicht. Aber wenn nun da draußen noch mehr Idioten wie der Jungzugführer Heinz Lukka kommandierten? Mit solchen war nicht gut Kirschen essen.
Deshalb überlegten sie, ihre Höhle auszubauen, mit Brettern zu stabilisieren und Lebensmittel hineinzuschaffen für den Fall der Fälle. Dann wollten sie aus dem Hinterhalt angreifen, wenn der Feind kam. Dass er kam, darum betete Toni von Burgs Vater jeden Abend. Und Pauls Mutter betete, dass die Gebete der Familie von Burg endlich erhört würden. Paul wusste das genau. Auf dem Lässler-Hof wurde abends noch viel geredet. Und nicht immer schlief Paul dann schon fest.
Im Frühjahr und im Sommer 44 konnten sie nicht hinaus, mussten auf den Feldern und in den Ställen helfen, fielen abends todmüde in die Betten und freuten sich schon auf den Spätherbst und den Winter. Nach der Ernte wollten sie ihren Plan vom Ausbau ihrer Höhle in die Tat umsetzen.
Und im Sommer 44, als die Befürchtungen der Sterns und der Goldheims wahr wurden, bemerkte Wilhelm Ahlsen, der den Abtransport überwachte, dass eine fehlte. Edith Stern, fünfundzwanzig Jahre alt, und wäre der Krieg nicht dazwischengekommen, hätte sie längst Edith Ruhpold geheißen.
Nachdem die Sterns und die Goldheims fort waren, erholte sich Werner Ruhpold auf langen Spaziergängen hinaus zum Bendchen von seiner schweren Kriegsverletzung und dem Blutverlust. Im Dorf wurde gemunkelt,dass er Brot und anderen Proviant auf seine Wanderungen mitnahm. Nur hinter vorgehaltener Hand wurde getuschelt. Kein Mensch hatte persönlich etwas gegen die Sterns und die Goldheims gehabt. Der alte von Burg und ein paar andere lachten sich sogar ins Fäustchen bei dem Gedanken, dass Edith Stern dem alten Ahlsen entwischt war.
Gegen Ende des Sommers, als Jakob und Paul den Zustand ihrer Höhle überprüfen wollten, fanden sie das Erdloch zugeschüttet. Sie besorgten sich Schaufeln, gruben bis weit in den Abend hinein und legten schließlich ein Gesicht frei. Edith Stern. Paul erkannte sie, obwohl sie schlimm zugerichtet war. Den Schädel hatte man ihr eingeschlagen. Was sonst noch mit ihr passiert war, hatten sie gar nicht so genau wissen wollen. Lange konnte sie noch nicht unter der Erde gelegen haben. Und wie sie hineingekommen war, erfuhr man im Dorf nie. Einfach deshalb nicht, weil Jakob und Paul in aller Eile und Panik das Gesicht wieder zuschaufelten und sich gegenseitig schworen, niemals mit einem Menschen darüber zu sprechen.
Es gab ein paar Gerüchte, später, als alles vorbei war, als man wieder offen reden konnte, wer mit wem und wie lange und warum. Kurz nach dem Krieg erklärte Werner Ruhpold in aller Öffentlichkeit, dass er seine Verlobung mit Edith nie wirklich gelöst und seine Braut über lange Wochen in einer Höhle am Bendchen versteckt habe. Dass ihm einmal auf seinen abendlichen Spaziergängen, die er nutzte, um Lebensmittel hinauszubringen, der junge Heinz Lukka gefolgt sei, gerade sechzehn, aber schon scharf auf alles, womit man sich ins rechte
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