Der Puppengräber
trotzdem gegangen. Aber sein Vater saß dabei. Und den Respekt vor Jakobs Fäusten hatte er nie verloren. Er hatte auch nie begriffen, dass die Kräfte sich im Laufe der Jahre gewaltig verschoben hatten.
So ließ er sich widerstrebend und Unverständliches vor sich hin murmelnd von Trude wieder hinaufführen. Jakob saß im Wohnzimmer und hörte ihn über seinem Kopf umherlaufen, vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Fenster, hin und her wie ein Tier im Käfig. Mehrfach klopfte er gegen das Holz, rüttelte an der Klinke und rief: «Finger weg!»
Trude ahnte, was es bedeutete. Dass er sich Sorgen machte um seine Welt, dass er fürchtete, es könne zu viel davon zerstört werden, wenn so viele Leute hindurchtrampelten. Sie brachte ihm ein Vanilleeis, später noch einen Schokoladenriegel und versuchte, ihn zu beruhigen: «Das ist die Polizei da draußen. Sie machen bestimmt nichts kaputt, sie schauen sich nur alles an. Wenn sie weg sind, darfst du raus. Setz dich und spiel ein bisschen. Wo ist deine Puppe?»
Dann lief Trude hin und her zwischen dem Schlafzimmerfenster und seinem Zimmer. Aber sie vergaß nie, den Schlüssel zu drehen, wenn sie seine Tür hinter sich zuzog.
Am späten Abend, als der Besucherstrom endgültig versiegte und auch Polizei und Feuerwehr das Feld räumten, brach Jakob in Begleitung seines Sohnes zum Sonntagsspaziergang auf. Jakob liebte es, durch die Felder zu schlendern. Er liebte es umso mehr, wenn Ben ihn begleitete.
Sie waren noch nicht außer Sichtweite des Hofes, alsJakob wie üblich anfing zu reden. Und Ben war der einzige Mensch, mit dem Jakob über alles reden konnte. Weil Ben nie eine Antwort gab, nie einen guten Rat, nie einen dummen Vorschlag machte. Weil er sich nur mit wichtiger Miene anhörte, was seinem Vater auf der Seele lag. Das schlechte Gewissen für den umgedrehten Schlüssel und so viele andere Dinge.
«Gehen wir uns mal ansehen, was sie alles zertrampelt haben», sagte Jakob, obwohl ihn das nichts mehr anging. Es waren nicht mehr seine Rüben und sein Weizen. Das war seit ein paar Jahren vorbei. Die Arbeitsgemeinschaft mit Paul Lässler und Bruno Kleu hatte zwar lange Zeit gut funktioniert. Aber dann hatten die beiden sich spezialisiert. Und Jakob hatte aufgeben müssen.
Keine Söhne. Nur Ben, den Riesen, der Kraft hatte für zehn, Augen wie eine Eule, ein Gedächtnis wie ein Elefant und den Verstand einer Mücke. Es war zwar mit den Jahren klar geworden, dass der Professor damals seine Diagnose ein wenig übertrieben formuliert hatte. Hochgradig war der Schwachsinn nicht. Ein paar Dinge hatte Ben durchaus gelernt, leider nichts Vernünftiges. Es wäre vielleicht mit der Zeit noch etwas hinzugekommen, hätte Trude sich nur entschließen können, ihn in einer Einrichtung unterzubringen, wo er entsprechende Förderung erhalten hätte. Aber Trude starb hundert Tode, sobald das Thema zur Sprache kam. Und dann war es eben nicht mehr zu ändern.
Die Hühner und zwei Schweine für den Eigenbedarf hatten sie behalten. Darum kümmerte sich Trude, ebenso um den großen Gemüsegarten, den sie neu angelegt hatte. Das Land hatten sie komplett an Bruno Kleu verpachtet. Die neue Scheune teilte sich Bruno mit Paul Lässler. Paul nutzte den Zwischenboden, um das Stroh zu lagern. Bruno hatte die Rübenmaus darin abgestellt,für ihn war es praktischer. Seine Zuckerrüben standen nahe dem Bruch, da musste er die Maus nicht um den ganzen Ort herumfahren.
Von der Pacht allein konnte man nicht existieren. Aber Jakob hatte Glück gehabt, trotz seines Alters. Heinz Lukka hatte seine Beziehungen spielen lassen und ihm zu einem Job verholfen. Seit ein paar Jahren war er Lagerarbeiter bei Wilmrod. Von morgens früh bis zum Feierabend fuhr er einen Gabelstapler durch die große Lagerhalle des Baumarktes in Lohberg. Er ordnete Paletten mit Schrauben und Dübeln, mit Kloschüsseln, Badewannen und Duschtassen. Er füllte die Regale im Verkaufsraum, wenn sonst niemand die Zeit fand.
Und manchmal hatte er das Gefühl, zwischen den Regalen zu ersticken. Dann schaute er wohl zwanzigmal zu der hohen Decke hinauf, vermisste den freien Himmel und konnte aus ganzem Herzen nachfühlen, dass sein Sohn es nicht lange in geschlossenen Räumen aushielt.
Es musste das Blut sein, Vererbung, der in Generationen gewachsene Instinkt für den Boden, den die Technik hatte schrumpfen lassen. Bei Ben war er noch einmal voll durchgeschlagen und zu den Ursprüngen zurückgekehrt. Vor den Maschinen hatte er panische
Weitere Kostenlose Bücher