Der Puppengräber
Angst, mit seinem Spaten vollbrachte er kleine Wunder. Nichts wurde zerstört, wenn er grub. Auf jeden Grashalm nahm er Rücksicht, was er ausheben musste, um den Boden nach Schätzen durchwühlen zu können, setzte er auch wieder zurück an seinen Platz. Und dann sah es aus, als wäre es nie fort gewesen.
Dass es ihn auch nachts ins Freie zog – seit Mitte Juli jede Nacht –, war Jakob nicht immer recht. Manchmal gab es Gerede wie im Juni, als er in Albert Kreßmanns Mercedes gegriffen und Annette Lässler über die nackten Brüste gestreichelt hatte. Im vergangenen Sommer hatteBruno Kleu anklingen lassen, Ben hätte ihn zu Tode erschreckt, als er plötzlich neben dem Auto auftauchte. Natürlich hatte Jakob sich gefragt, was Bruno mitten in der Nacht mit dem Auto draußen zu suchen gehabt hatte. Nach seinen Rüben hatte er wohl kaum geschaut. Und zu Tode erschreckt, das konnte man sich bei Bruno nur schwer vorstellen.
Erschreckt hatte sich vermutlich nur die Dame in Brunos Begleitung. Und wenn die Bruno nicht mit ins eigene Bett nehmen konnte, wenn sie gezwungen war, sich beim Bendchen oder sonst wo mit ihm zu amüsieren, musste es dafür Gründe geben – vermutlich einen Ehemann. Jakob war kein Moralapostel, trotzdem hatte er gedacht, dass ein Schreck in solch einem Fall ganz heilsam sein konnte.
Aber er verstand, dass manche Leute Angst hatten. Dass Ben, wie Trude unentwegt behauptete, ein sanftmütiges Kind war, stand ihm nicht auf der Stirn geschrieben. Und wenn ein zwei Meter großes Kind mit einem Kreuz wie ein Kleiderschrank, mit Fäusten wie Schmiedehämmer, einem Fernglas vor Augen und einem Klappspaten am Taillenriemen plötzlich nachts neben einem parkenden Auto oder einer Decke am Waldrand auftauchte, sah ihm niemand an, dass es gutmütig und völlig harmlos war. Da rutschte einem einfach das Herz in die Hose. Wer ihn kannte wie Albert Kreßmann, Bruno Kleu und einige andere, der wusste, wie er sich verhalten musste. Fremde jedoch …
«Wir müssen mal reden», begann Jakob, während sie sich mit gemächlichen Schritten dem Bendchen näherten. «Ich hab nichts dagegen, wenn du draußen rumläufst. Aber nachts solltest du im Haus bleiben. Bis sich diese Sache aufklärt. Verstehst du?»
Ben nickte gewichtig. Es war nur eine Reaktion aufden bedächtigen Tonfall seines Vaters, genau der Ton, in dem Jakob ihm seine Sorgen und geheimsten Gedanken anvertraute.
«Dann sind wir uns also einig», sagte Jakob. «Es wird bestimmt nicht für lange sein. Wenn sie Erichs Tochter finden oder wenn das Mädchen von allein wieder auftaucht …» Er brach ab und seufzte. «Aber um ehrlich zu sein, das glaub ich nicht. Wenn nichts passiert wäre, könnten sich die beiden Kerle ja melden und sagen, ob sie das Mädchen ein Stück mitgenommen und wo sie es abgesetzt haben.»
Ben nickte erneut mit ernster Miene, lief unruhig ein paar Schritte voraus. Und Jakob versank wieder in seinen Gedanken. Er sorgte sich um Trude, kannte die feinen, unbewussten Gesten, das Schweigen und den verschlossenen, vielsagenden Gesichtsausdruck, den sie heute gezeigt hatte. All die Jahre hatte Trude gefürchtet, dass von oben die Anweisung kam, Ben in ein Heim zu geben. Jetzt wurde sie fast verrückt, weil er nachts unterwegs war, weil ihn jemand gesehen haben könnte, weil die Polizei sein Revier mit Hunden absuchte.
Jakob war sicher, dass es nichts zu bedeuten hatte, nur Gründlichkeit war. Die Zeiten hatten sich eben geändert. Früher konnten die Mädchen verschwinden, ohne dass ein Hahn danach krähte. Aber da waren solche wie Ben ebenfalls verschwunden. Den breiten Rücken seines Sohnes vor Augen nickte Jakob versonnen vor sich hin.
Ben blieb stehen, setzte das Fernglas vor die Augen, spähte zum Waldrand hinüber und wartete, bis sein Vater neben ihm war.
«Hier kannst du lange suchen», sagte Jakob. «Was hier draußen verschwindet, taucht so schnell nicht wieder auf. Da muss schon zufällig einer an der richtigen Stelle graben.» Er streckte den Arm aus und wies in dieRichtung, in die Ben schaute. «Da hinten haben wir mal eine gefunden, Paul und ich.»
Dann erzählte Jakob seinem Sohn von Edith Stern, die vor dem Krieg mit dem Gastwirtssohn Werner Ruhpold verlobt gewesen war, von der immer noch viele im Dorf glaubten, sie sei den Nazischergen entkommen. Das war sie möglicherweise auch, aber davongekommen war sie nicht. Das wusste Jakob genau. Er hatte nur noch nie einem Außenstehenden gegenüber ein Wort darüber
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