Der Puppengräber
sprach Tage später darüber, nicht zur Polizei und auch nicht zu dem jungen Artisten, der nach seiner Schwester fragte, den hatte sie gar nicht ins Haus gelassen. Sie erzählte es Hilde Petzhold und Illa von Burg, die sie im wöchentlichen Wechsel mit einer warmen Mahlzeit täglich versorgten, ihr die Einkäufe abnahmen, ihre Wäsche wuschen und Ordnung in der Kate hielten. Hilde Petzhold erzählte es Erich Jensen, der es aber nicht ernst nahm, wie auch Illa von Burg der Alten keinen Glauben geschenkt hatte, weil Gerta Franken erzählte, Maria Jensen sei das Opfer gewesen. Der kleine Irrtum begründete sich vermutlich in der verblüffenden Ähnlichkeit. Althea Belashi hatte wie Maria Jensen langes, blondes Haar, eine zierliche Figur und feingeschnittene Gesichtszüge.
Es mag kurz vor Mitternacht gewesen sein. Gerta war in dem alten Ohrensessel am Kammerfenster eingenickt und erwachte von einem Schrei, der in gurgelnde Laute überging. Gleichzeitig hörte sie jemanden unterdrücktfluchen. Sie setzte ihr Nachtglas an die Augen und suchte den Weg ab. Dort war nichts zu sehen. Und im Gewirr ihres Gartens war auf Anhieb nichts zu erkennen. Erst als sie das Brechen von Zweigen hörte und dem Geräusch mit ihrem Fernglas nachspürte, entdeckte sie den Ort des Geschehens.
Es war eine eindeutige Situation und Gerta Franken mit ihren neunundachtzig Jahren zu alt, vielleicht auch zu fasziniert, um einzugreifen. Ein Telefon, um Hilfe herbeizurufen, besaß sie nicht. Möglicherweise hätte es gereicht, laut zu schreien, um den Täter zu vertreiben, bevor er zum Äußersten ging. Daran dachte sie entweder nicht oder unterließ es aus Gründen, die nur ihr bekannt waren. Sie war zu Anfang auch überzeugt, die vermeintliche Maria Jensen, die ihr Leben mit Fäusten, Füßen und Zähnen verteidigte, würde aus dem heftigen Kampf als Siegerin hervorgehen.
Als Gerta Franken ihren Irrtum erkannte, war es zu spät, noch etwas zu unternehmen. Sie befürchtete, sich selbst in Gefahr zu bringen, wenn sie sich bemerkbar machte. Es wäre eine Kleinigkeit gewesen, durch die Hintertür in ihr Häuschen einzudringen.
Ob sie den Täter erkannte, ließ sich nicht mehr klären. Aber es ist anzunehmen. Ebenso muss sie gewusst haben, warum nie eine Leiche gefunden worden war. Und sie wusste mit Sicherheit, dass es einen weiteren unmittelbaren Tatzeugen gegeben hatte – Ben. Eine Bemerkung, die sie Hilde Petzhold gegenüber machte, lässt keinen anderen Schluss zu.
Diese Bemerkung fiel am Tag, nachdem der Zirkus sein Zelt endlich abgebrochen und Gerta Franken eine zweite schockierende Beobachtung gemacht hatte. Es war der Samstag nach dem Mord an Althea Belashi, an den niemand glaubte.
Am frühen Nachmittag saß Gerta Franken am Kammerfenster und beobachtete das Grundstück von Jakob Schlösser. Ihr spezielles Interesse galt der Apfelwiese.
Von ihrem Stammplatz am Fenster aus hatte Gerta Franken häufig zugeschaut, wenn Trude die Wiese nach Fallobst absuchte und Ben dabei an ihrer Seite hielt. Gerta hatte gesehen, wie Trude ihm die eingesunkenen Trichter und den offenen Pütz zeigte, wie sie mit erhobenem Zeigefinger auf die Gefahren hinwies.
Und an dem Samstag im August 80 sah Gerta ihn über die Wiese schleichen – alleine, aber das war nicht ungewöhnlich. Es war ihm verboten. Er tat es trotzdem, wenn niemand in der Nähe war. Gerta war überzeugt, dass er die Gefahren des Bodens kannte. Er trat vorsichtig auf, ließ die Augen über die tiefen Senken schweifen und näherte sich dem offenen Schacht. Und das, fand Gerta, ging zu weit. Auf ihre Art hegte sie eine große Sympathie für Ben. In ihren Augen war er nicht so falsch und verschlagen, so verlogen und verdorben wie Albert Kreßmann, Dieter Kleu und die Gören, die sich neuerdings auf der Bachstraße breitmachten. Aber trauen, das wusste sie, durfte man ihm nicht. Von der Harmlosigkeit, die Trude ihm bescheinigte, war er weit entfernt.
Gerta Franken hatte ihn auch an dem Freitag im Mai gesehen, als er Trude mit einem blutigen Fleischbrocken und ein paar ungeborenen Kätzchen erschreckte. Sie hatte Illa von Burg davon erzählt. Sie war am Kammerfenster eingeschlafen und von Trudes Suche geweckt worden. Anschließend hatte sie mit ihrem Fernglas die Gegend nach ihm kontrolliert und den Feldweg nicht mehr aus den Augen gelassen. Dann entdeckte sie ihn plötzlich im Brombeergestrüpp ihres Gartens und wunderte sich, warum er seiner aufgeregt rufenden Mutter nicht geantwortethatte. Er
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