Der Puppengräber
musste ja die ganze Zeit in den Brombeeren gewesen sein, sonst hätte sie ihn kommen sehen.
Sie war hinuntergegangen, ihn heimzuschicken. Und da hockte er mit dem verstümmelten Katzenbalg zwischen den Sträuchern. Sein Hemd und die Hose waren von den Dornen zerrissen, Hände und Unterarme völlig zerkratzt. Er stocherte mit einem Taschenmesser in den Eingeweiden und stopfte irgendwas aus seinen Taschen in den aufgeschlitzten Balg.
Der Striemen auf seinem Rücken, der Trude so beunruhigt hatte, war von Gerta Frankens Peitsche hinterlassen worden. Nur so war Ben zu überreden gewesen, aus dem Gestrüpp herauszukommen, von dem Kadaver abzulassen und lediglich mit dem Taschenmesser und einem Stück Fleisch in der Hand heimzugehen. Dass er noch Innereien in den Hosentaschen gehabt hatte, war Gerta nicht aufgefallen. Sie hatte in dem Moment eine große Genugtuung verspürt. Weil Ben ihr gehorcht hatte und weil … Sie mochte keine Katzen. Dass eine Frau so ein Theater um die Viecher machte, wie Hilde Petzhold es tat, wollte ihr nicht in den Sinn. Sie hatte den Kadaver beim Schwanz gepackt und in dem Pütz verschwinden lassen.
Knapp drei Monate nachdem Gerta Franken ihn mit der toten Katze erwischt hatte, näherte sich Ben nun dem Pütz.
Dass ihm etwas zustieß, wollte Gerta auf keinen Fall. Sie quälte sich auf ihren altersschwachen Beinen die krumme Stiege hinunter und weiter in ihren Garten. Als sie dort ankam, war von ihm nichts mehr zu sehen. Sie schirmte die Augen mit einer Hand gegen die Sonne ab, spähte angestrengt und nahm endlich eine Bewegung im hohen Gras wahr. Er lag auf dem Bauch neben dem offenen Schacht.
«He!», rief Gerta. «Komm da weg, aber schnell.»
Er erhob sich tatsächlich und kam langsam auf sie zu. Dass er etwas in der Hand hielt, erkannte sie wohl, aber es sah harmlos aus – wie ein abgebrochener Griff von irgendwas. Als er sich ihr bis auf zwei Meter genähert hatte, fuhr aus diesem Griff plötzlich eine lange, spitze Klinge.
«Na so was», sagte Gerta verblüfft. «Wo hast du denn das her? Das bringst du aber besser deiner Mutter, bevor du dich in die Finger schneidest.»
Er fuchtelte ihr mit dem Springmesser vor den Augen herum. Zwischen ihnen war nur der niedrige, morsche Gartenzaun.
«Du sollst es wegtun», verlangte Gerta energisch. «Das ist kein Spielzeug. Hat man dir das nicht beigebracht? Messer, Gabel, Schere, Licht taugt für Kinderhände nicht.»
«Rabenaas», sagte er.
«Pass bloß auf, was du sagst», hielt Gerta dagegen. «Sonst hetz ich dir deinen Vater auf den Hals. Dann kriegst du Rabenaas, bis dir Hören und Sehen vergeht.»
«Rabenaas», sagte er noch einmal, hob auch noch einmal die Hand mit dem Messer und vollführte ein paar Bewegungen in der Luft, als wolle er zustechen.
Gerta zog sich vorsichtshalber ein paar Meter zurück, streckte mit wenig Hoffnung die Hand aus und verlangte: «Gib mir das.»
«Finger weg», sagte Ben und steckte die Hand mit dem Messer auf den Rücken. Dann trottete er zur Scheune.
Gerta schaute ihm kopfschüttelnd nach, bis er im Dämmerlicht verschwand. Nur ein paar Sekunden später hörte sie ein Kind schreien. Antonia Lässler war bei Trude zu Besuch mit der vierjährigen Annette. Gerta kümmerte sich nicht um das Geschrei. Sie ging zurückins Haus, stieg die Treppe wieder hinauf und setzte sich wie zuvor ans Fenster. Und zehn Minuten später sah sie ihn erneut auftauchen. Diesmal war er nicht allein.
Er hielt einen Körper unter den Arm geklemmt. Gerta sah blondes Haar und ein aufwendiges Kleidchen. Sie sah auch, dass Arme und Beine unter Bens Schritten kraftlos hin und her schlenkerten. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihr bliebe das Herz stehen. So erzählte sie es jedenfalls Hilde Petzhold. Und vielleicht hatte sie in diesem Moment ein schlechtes Gewissen; weil sie ihn mit dem Messer hatte laufen lassen. Weil sie nach ihren Beobachtungen in der Nacht, als eine junge Frau mit langen, blonden Haaren getötet worden war, nicht mit Trude gesprochen hatte, obwohl sie Bens Nachahmungstrieb zur Genüge kannte und oft genug ihre Freude daran hatte, wenn er für Albert Kreßmann den Idioten spielte.
Es ist schwer zu sagen, was in Gerta Franken vorging bei diesem Anblick. Zweifel an der Identität des kleinen Körpers, den Ben unter dem Arm trug, hatte sie jedenfalls nicht. Das Lässler-Mädchen.
Auf den Gedanken, ihr Nachtglas anzusetzen, kam sie nicht. Es war schließlich heller Tag, und so schlecht waren ihre Augen
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