Der Puppengräber
erfüllen, weinte Trude oft heimlich vor sich hin.
25. AUGUST 1995
Den ganzen Freitag hatte Jakob während der Arbeit ein ungutes Gefühl. Es war fast, als bestünde eine geheime Verbindung, die es ihm ermöglichte, Trudes Angst zu spüren, ihre Qual. Aber hätte er gesehen, dass Trude den Küchenherd anheizte, um zwei Finger in der Glut verschwinden zu lassen, wäre er auf der Stelle heimgefahren und hätte sie zur Rede gestellt.
Jakob hätte dafür gesorgt, dass die Herkunft dieserFinger geklärt wurde. Und hätte sich herausgestellt, dass Ben sie jemandem – tot oder lebendig – abgeschnitten hatte, hätte Jakob die Konsequenzen gezogen, wie auch immer sie beschaffen sein sollten.
Zu einem Teil rührte das ungute Gefühl, das sich während der Woche allmählich aufgebaut hatte und freitags seinen Höhepunkt erreichte, von den Zeitungen her. Mittwochs hatte es in einem kleinen Artikel geheißen, man habe Klaus und Eddi wieder freilassen müssen, weil ihre Angaben nicht zu widerlegen gewesen seien und man keinen Anhaltspunkt für ein Verbrechen gefunden habe. Aber der größte Teil seines Unbehagens hatte seinen Grund in Trudes Einsilbigkeit.
Sie war so sonderbar geistesabwesend geworden. Wenn sie abends im Wohnzimmer saßen und er sie ansprach, zuckte sie oft zusammen, als hätte er sie geschlagen. Jedes Mal fragte er sich, wo sie wohl gerade mit ihren Gedanken gewesen war.
Ihm selbst spukten unentwegt die Zeitungsartikel durch den Kopf und die Szene, die er am Montagmorgen auf dem Feldweg hatte beobachten müssen. Wie Ben seine jüngste Schwester an sich drückte, wie er versuchte, sie samt ihrem Fahrrad durch die Luft zu wirbeln.
Jakob liebte seinen Sohn, auch wenn seine Liebe in früheren Jahren leider zu oft durch die Fäuste geflossen war, was er aufrichtig bedauerte. Er war sich jederzeit der Verantwortung für ihn bewusst, liebte ihn ehrlich und aufrichtig, aber längst nicht so inbrünstig wie seine Jüngste.
Für Jakob war die dritte Tochter immer noch ein Himmelsgeschenk. Tanja war höchst selten daheim, aber das änderte nichts an seinen zärtlich besorgten Gefühlen für sie. Trude brauchte Ben, den Sohn, der auch mit zwei Metern Körpergröße und mehr als zwei Zentnern Gewicht noch darauf angewiesen war, dass seine Mutter ihm dieHände und den Hintern wusch. Und Jakob brauchte den Traum, eines Tages einen Hof, der nicht mehr existierte, in junge Hände zu übergeben. Sie ging aufs Gymnasium in Lohberg wie Anita vor Jahren. Studieren wollte sie auch, davon schwärmte sie ihm häufig vor. Agrarwissenschaft. Und tief in seinem Innern hauste die Furcht, dass daraus nichts werden könnte, dass irgendwann irgendwer den Traum zunichte machte.
Seltsamerweise stiegen immer dann ein paar Furchtblasen an die Oberfläche, wenn er Zeuge solcher Umarmungen geworden war. Es war ja beileibe nicht die erste gewesen am Montagmorgen. Hin und wieder kam sie heim, erzählte von der Schule, von Onkel Paul und Antonia oder einem Besuch im Kino. Kam Ben dazu, und er kam regelmäßig dazu, grinste sie an, brabbelte Fein, und dabei juckte es ihn in sämtlichen Fingern.
Tanja war ein zierliches Kind, und mit ihren dreizehn Jahren war sie wahrhaftig noch ein Kind. Und Ben, dieser ungehobelte Klotz, ging mit ihr um wie mit einem Mehlsack. Schon hundertmal hatte Jakob gemahnt, den Finger gehoben, die Stimme gestählt und um Vorsicht gebeten. «Nicht so feste, Ben.»
Dann lachte sie. Sie war so unbekümmert, so sorglos und vertrauensselig, so voller Geschwisterliebe, im Gegensatz zu ihren beiden Schwestern, die heute einen noch größeren Bogen um Ben machten als in jungen Jahren. Sie nicht, sie liebte diesen Riesen abgöttisch, hing an seinem Hals, ritt auf seinem Rücken, vielleicht, weil sie es nicht anders kannte.
«Mein Bär», sagte sie. Oder: «Mein Waldmensch.» Und: «Keine Sorge, Papa, wenn er mir wehtut, brülle ich laut, dann hört er sofort auf.» Eines Tages kam das Brüllen vielleicht zu spät. Eines Tages brach ihr der Bär garantiert ein paar Rippen. Und dann gnade ihm Gott.
Natürlich wusste Jakob seit langem, dass Ben seine jüngste Schwester auch dann umarmte, wenn er mit ihr allein war, unbeobachtet von Jakobs argwöhnisch aufmerksamen Augen, draußen auf dem Feldweg. Vielleicht an genau der Stelle, von der aus Marlene Jensen verschwunden war. Die Polizei mochte von der Schuld der beiden jungen Männer überzeugt sein und sie nur aus Mangel an Beweisen laufengelassen haben. Doch inzwischen
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