Der Puppengräber
denken? Wenn Dieter es war, läuft er frei rum. Wenn Albert mit ihr Verstecken gespielt hat, hat er sie gut versteckt. Gefunden hat man ja nichts. Das denke ich.»
Und Jakob dachte in einem erneuten Anflug von Depression, wenn Dieter es nicht war und Albert nicht und Klaus und Eddi auch nicht, läuft ein anderer frei rum. Nacht für Nacht. Und wenn das einer ist, der sich nichtunter Kontrolle hat, wird er es wieder tun, sobald sich ihm die Gelegenheit bietet. Und Ben … Wenn es darum ging, etwas zu verstecken, war er vermutlich um Längen besser als Albert Kreßmann.
Irgendwas ist wieder, dachte Jakob, Trude ist seit Tagen so komisch. So ist sie immer, wenn irgendwas ist. Und wenn man etwas sagt, wird sie zur Furie. Sie lässt nichts auf ihn kommen. Aber weiß sie denn genau, was er da draußen treibt? Das kann sie nicht wissen.
Es wurde Jakob nicht bewusst, dass er nickte. Wolfgang Ruhpold sah darin eine Bestätigung seiner Gedanken und wandte sich einem anderen Gast zu. Und Jakob sah einen schmutzigen, ehemals vielleicht hellblauen Fetzen, der Teil einer Mädchenjacke gewesen sein mochte, zwischen winzigen, grauweißen Knochen und schimmelnden Kartoffelstücken in seinem Bier schwimmen.
Als er das Glas angeekelt fortschob und den Kopf hob, sah er im Spiegel hinter dem Tresen die morgendliche Begrüßungsszene im freien Feld. Sie war nicht korrekt, entsprach mehr seiner Wunschvorstellung. Ein sanft lächelnder Ben breitete die Arme aus, und seine strahlende kleine Schwester stürzte sich mit einem übermütigen Freudenschrei hinein.
Dann wurde es dunkel im Spiegel. Unter dem Nachthimmel lief auf dem gottverlassenen Feldweg ein junges Mädchen mit dem Gesicht einer Paradepuppe. Und ein blöde grinsender Riese mit Fäusten wie Schmiedehämmer und einem Klappspaten am Taillenriemen näherte sich ihr. In harmloser, gutmütiger Absicht. Doch das Mädchen war nicht die kleine Schwester, es ließ sich nicht ohne Gegenwehr durch die Luft wirbeln. Es schrie nicht vor Freude. Das erschreckte den Riesen, es machte ihm Angst. Er wusste, dass er die Mädchen nicht anfassen durfte, dass er bestraft wurde, wenn er es tat. Er wolltenicht, dass jemand aufmerksam wurde, wollte nur, dass das Schreien verstummte. Und wenn er etwas gelernt hatte in seinem Leben, dann vermutlich, eine Puppe so zu vergraben, dass kein Fetzen von ihr gefunden wurde.
Jakob schüttelte sich bei dem Gedanken, so könnte es gewesen sein. Und darüber konnte er mit Trude nicht reden. Nicht über den Fetzen im Einweckglas. Nicht über die Tatsache, dass Ben eben anders war. Dass er den Küken die Gurgeln nur aus einem Grund abgedrückt hatte: um ein bisschen Zärtlichkeit. Und Trude fand, das stand ihm zu.
Wolfgang Ruhpold tauschte das Bier gegen ein frisches und durchtrennte Jakobs Gedankenfaden für kurze Zeit, als er sagte: «Du könntest mir einen Gefallen tun, Jakob. Wenn du heimfährst, kannst du jemanden mitnehmen.»
Er deutete zum Speisezimmer hinüber. Jakob folgte dem Wink, schaute sich die Gesichter an den Tischen der Reihe nach an und stieß auf ein unbekanntes. Eine junge Frau Anfang zwanzig.
«Sie hat sich nach Werner erkundigt», erklärte Wolfgang Ruhpold, «und eine Menge Fragen über Lukka gestellt. Aber dass ich die Kneipe übernommen habe, heißt ja nicht, dass ich in Werners Geheimnisse eingeweiht bin. Und was Lukka früher getrieben hat, weiß ich nun wirklich nicht. Jetzt will sie unbedingt raus zu ihm. Das ist ein Stück zu laufen und zurzeit vielleicht nicht ganz ungefährlich. Ich hab ein komisches Gefühl und wäre ruhiger, wenn du sie mitnimmst. Sonst kommt Lukka schon mal freitagabends. Ausgerechnet heute ist er nicht da.»
Da waren die Enden des Gedankenfadens wieder miteinander verknüpft. Ein komisches Gefühl. Jakob hatte auch eins. Und das war nicht nur komisch. Es juckte und stach wie ein giftiger Dorn im Innern.
Er nickte noch einmal und musterte die junge Frauverstohlen. Neben ihrem Stuhl stand ein großer Rucksack aus blauem Perlonstoff, über der Stuhllehne hing eine bunte Wetterjacke. Sie trug ihr dunkles Haar kurz geschnitten wie ein Mann. Die karierte Bluse und die Jeans verstärkten ihr burschikoses Aussehen noch. Doch das Gesicht war zart geschnitten. Es erinnerte Jakob an jemanden. Nur wusste er nicht, an wen.
«Kennst du sie?», fragte Jakob.
Wolfgang Ruhpold schüttelte den Kopf. «Sie ist nicht von hier. Hat einen merkwürdigen Akzent. Bevor du kamst, dachte ich noch, wenn so eine verschwindet, da
Weitere Kostenlose Bücher