Der Puppengräber
Platz genug gewesen, Edith zu verstecken. Bei all den Leuten wäre es auch nicht aufgefallen,wenn eine mehr gegessen hätte. Aber dann hatte Igor sich nur noch in einem Graben verstecken können, damit ihm nicht ebenfalls der Schädel gespalten wurde. Alles hatte er hilflos mit ansehen müssen und anschließend nicht mehr für Edith Stern tun können als ihren misshandelten Körper mit Erde bedecken. Mit bloßen Händen hatte er sie begraben – und es all die Jahre tief in seinem Innern mit sich getragen.
Erst auf dem Sterbebett war er zu der Überzeugung gelangt, ein ebensolcher Verbrecher zu sein wie Ediths Mörder. Hätte Werner Ruhpold von ihrem Tod gewusst, hätte er vielleicht eine andere geheiratet, Kinder bekommen und ein erfülltes Leben gehabt. Da hatte Igor ihn rufen lassen. Drei Namen hatte er Werner Ruhpold genannt, Heinz Lukka als Anstifter und Überwacher der Aktion, zwei andere als ausführende Organe.
Jakob erinnerte sich an die beiden. Den einen hatten die Amerikaner im April 45 erschossen. Mitten im Dorf und zum Entsetzen der Bevölkerung, weil der Junge doch nichts anderes getan hatte, als den letzten Befehl seines Führers zu befolgen. Das Kloster hatte er verteidigt; mit einem alten Sturmgewehr auf die anrückenden Panzer der Amerikaner gefeuert, taub für jedes gute Zureden der verschreckten barmherzigen Schwestern. In seinem blinden Eifer hatte er noch einen Sergeanten mit auf die lange Reise genommen. Da hatten die Amerikaner kurzen Prozess gemacht.
Auch der dritte Name, den Werner Ruhpold in seinem letzten Brief erwähnt hatte, stand nur noch auf der Tafel am Kriegerdenkmal. Die Henker konnte man nicht mehr zur Rechenschaft ziehen, nicht einmal mehr fragen, was sie sich dabei gedacht hatten, einer wehrlosen Frau den Schädel einzuschlagen, nur weil ein sechzehnjähriger Schnösel befand, das sei Bürgerpflicht.
«Mein Gott», murmelte Jakob, schockiert vor Ergriffenheit und von der Erinnerung an Edith Sterns blutverkrustete Haare und ihr aufgedunsenes Gesicht. «Mein Gott, das hätte ich nicht gedacht. Ich meine, ich weiß, dass Lukka mit Freuden bei der Sache war damals. Aber ich dachte immer, er hätte nur gerne den großen Kommandeur gespielt. Na, wenn man’s recht bedenkt, hat er das ja auch in dem Fall getan.»
Auf dem Weg zur Abzweigung erzählte Jakob, wie das damals gewesen war. Dass er und sein Freund Paul Lässler all die Jahre geschwiegen, dass er es kürzlich jedoch seinem Sohn anvertraut hatte. Weil gerade wieder ein Mädchen aus dem Dorf verschwunden war. Dass sein Sohn aber mit keinem Menschen darüber sprechen könnte. Jakob schloss mit der Frage: «Ist Ihnen kein bisschen mulmig bei der Sache? Was wollen Sie Lukka denn sagen?»
Das wusste Edith Stern noch nicht. Eigentlich wollte sie Heinz Lukka nur die Briefe zeigen. Daraus würde sich schon etwas ergeben. Und sie wollte auf keinen Fall bis vor seine Tür gebracht werden, damit es nicht peinlich wurde für den Anwalt.
Als Jakob die Abzweigung zu seinem Hof erreichte, zeigte er den Weg hinunter und erklärte: «Da hinten wohnt er, das sind aber noch zwei Kilometer.»
Edith Stern entschied, das restliche Stück könne sie zu Fuß gehen. Da habe sie ein bisschen Zeit, sich die Worte zurechtzulegen. Genaugenommen wollte sie ihn ja nur kennenlernen, den ehemaligen Jungzugführer der Hitlerjugend, der mit sechzehn so große Unterschiede zwischen Mensch und Mensch gemacht hatte und seit fünfzig Jahren eine Säule der christlich-demokratischen Gesellschaft war.
«Ich kann Sie aber schnell hinbringen», bot Jakoban. «Ich muss ja nicht vor seiner Tür halten. Ich fahre Sie bis zum Mais. Da sieht er das Auto nicht. Es macht überhaupt keine Mühe. Und es ist vielleicht besser, wenn Sie nicht alleine durchs Feld laufen.» Obwohl es ihm schwerfiel, erklärte er noch einmal, warum es besser sei, weil doch gerade erst wieder ein Mädchen …
Aber Edith Stern lachte nur. Sie wisse sich die Kerle schon vom Leib zu halten, meinte sie.
Jakob stieg mit ihr aus, reichte ihr den Rucksack und die bunte Wetterjacke, blieb bei der Abzweigung stehen und schaute ihr minutenlang nach, wie sie im schwindenden Tageslicht den Weg hinunterlief.
Auf den restlichen sechshundert Metern bis zur Scheune war sein Schädel zum Bersten gefüllt. Und jetzt ging alles durcheinander. Edith Stern und weggeschaffte Zeitungen; Dieter Kleu, Albert Kreßmann und die Vermutung, dass man beide zu Unrecht verdächtigte; Heinz Lukka, Kreßmanns Igor,
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