Der Puppengräber
Werner Ruhpold, die unterschwellige Furcht und die Verantwortung, die man als Vater trug. Und das ungute Gefühl nagte weiter.
Er nahm sich fest vor, morgen in aller Ruhe mit Trude über diese Dinge zu reden. Dann war er ausgeruht, vollkommen nüchtern und gewappnet für den Kampf. Und so hart konnte es nicht werden, wenn er einen ungerechtfertigten Verdacht am Beispiel von Dieter Kleu und Albert Kreßmann erläuterte. Er musste es nur geschickt anfangen.
Trude wusste zur Genüge, dass einer wie Ben mit einem anderen Maß gemessen wurde. Wenn Dieter Kleu alles haben wollte, was ihm vor die Augen geriet, war das in Ordnung. Wenn Albert Kreßmann auf einem nächtlichen Feldweg seine Hände auf eine weibliche Brust und seinen Kopf in den Schoß einer jungen Frau schob, schmunzelten alle. Albert war jetzt in dem Alter, es war sein gutesRecht. Und solch ein Recht gab es nicht für Ben. So eins nicht, und auch kein anderes.
WEISSER SONNTAG – BUNTER SONNTAG
Das Jahr 81 war von Unglücksfällen und Sorgen überschattet. Doch in seinen letzten Tagen bescherte es Jakob und Trude Schlösser ein paar Stunden Dankbarkeit und Glück. Ende Dezember kam ein Brief vom Pfarramt.
Richard und Thea Kreßmann hatten schon am Vortag ein gleichlautendes Schreiben erhalten. Und Thea – wie nicht anders zu erwarten – setzte sich ins Auto, kam zu Trude, erkundigte sich in scheinheiliger Anteilnahme, ob auch sie bereits … Und hielt der Ahnungslosen das Blatt Papier unter die Nase.
In der Einleitung stand in salbungsvollen Worten: Das Kind der Familie Kreßmann habe nun das Alter erreicht, in die christliche Gemeinde aufgenommen und an den Tisch des Herrn gebeten zu werden. Es folgte die Aufforderung, dieses Kind zur Teilnahme an der ersten heiligen Kommunion anzumelden. Gemeint war Albert. Und trotz des Nadelstichs, der ihr die Rippen entlang ins Herz fuhr, schaffte Trude die bissige Bemerkung: «Wieso in die christliche Gemeinde? Ist Albert nicht getauft?»
Ben war getauft. Aber Trude ging davon aus, dass man ihn am Tisch des Herrn ebenso wenig sehen wollte wie auf einer Schulbank. Doch da irrte sie sich offenbar.
Schon am nächsten Morgen brachte der Postbote ein Kuvert, das genauso aussah wie jenes, das Thea ihr gezeigt hatte. Trude sah im Geist einen festlich mit dunkelblauem Anzug bekleideten Ben vor dem Altar stehen; ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Fliege, die brennendeKerze in der Hand und unter dem Arm das Gebetbuch mit Goldauflage; umgeben von kleinen Mädchen in langen weißen Kleidern und mit Kränzen auf den Köpfen. Sekundenlang presste Trude die Lippen fest aufeinander, um nicht loszuweinen vor Ergriffenheit.
Sie wagte nicht, das Kuvert zu öffnen. Das tat Jakob am Abend. Dann überlegten sie stundenlang, wie sie das Fest für Ben ausrichten konnten. Wie sie ihn dazu brachten, sich während der heiligen Messe still zu verhalten, auf dem ihm zugewiesenen Platz zu bleiben, keinen Unfug mit der brennenden Kerze zu veranstalten und nicht ein halbes Dutzend Hostien aus dem Kelch zu schnappen. Und alles beruhte auf einem Irrtum der Pfarramtssekretärin, die aus Lohberg stammte und sich in den hiesigen Verhältnissen nicht auskannte.
Als Trude sich an einem der ersten Januartage 82 auf den Weg zum Pfarramt machte, hatte sich der erste Freudentaumel gelegt. Ben an der Hand, der mit der guten Sonntagshose und einem neu angeschafften Hemd einen adretten Eindruck machte, erzählte Trude von dem bevorstehenden Vergnügen. Nicht dem Besuch im Pfarramt, dem anschließenden Besuch im Café Rüttgers. – Vorausgesetzt: Er war lieb, gehorchte aufs Wort, belästigte weder den Pfarrer noch die Pfarramtssekretärin – man wusste ja nicht genau, mit wem man es zu tun bekam – und auch sonst keinen Menschen mit Schimpfworten, wilden Schreien, wüstem Gezappel und anderen Unarten.
Von der unterschwelligen Nervosität seiner Mutter angesteckt und von diffusen, aber durchaus angenehmen Erwartungen angefüllt, bemühte Ben sich um gleichmäßige, ausgreifende Schritte, wobei er jedes Mal mit dem Fußheben den Oberkörper weit vorbeugte.
«Jetzt lass das», sagte Trude. «Geh vernünftig! Wie sieht das denn aus!»
Und Ben, zwar nicht die Worte, aber das Reißen an seinem Arm richtig deutend, verfiel erleichtert in seinen gewohnten Trott.
Vor der Tür des Pfarramts strich Trude ihm noch einmal vorsorglich durchs Haar, fand bei einem prüfenden Blick in sein Gesicht, dass er wirklich ein hübscher Junge war. Sehr groß und
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