Der Puppengräber
trotzige Miene auf.
Mit Nachdruck in der Stimme wiederholte Trude ihre Forderung: «Sofort gibst du mir das verdammte Ding! Wo hast du es her? Hast du es gefunden? Hast du es jemandem abgenommen? Oder hat es dir jemand geschenkt?»
Eine Frage nach der anderen, wie aus einer scharfen Pistole abgeschossen. Er machte einen Buckel im Bemühen, kleiner zu werden, um auf diese Weise ihrem Zorn zu entgehen und seinen Schatz behalten zu dürfen. Ihre Stimme verhieß nichts Gutes. Um ihr Verlangen wenigstens teilweise zu erfüllen, fasste er einen Teil der letzten Nacht in einem Wort zusammen. «Freund», sagte er.
Damit wusste Trude: Er war bei Heinz Lukka gewesen. Sie schluckte trocken. «Hast du … Schokolade bekommen?»
Er schüttelte den Kopf.
«Warum nicht?», fragte Trude. «Warst du nicht lieb? Oder hat Heinz dich nicht gesehen? Du hast ihn doch bestimmt gerufen, damit er dir etwas Süßes gibt.»
Wieder schüttelte er den Kopf. «Fein», sagte er.
«Hatte Heinz noch Besuch, als du gekommen bist?»
Jetzt nickte er und sagte: «Rabenaas.»
Auch Trude nickte mehrfach hintereinander. Ein Nicken für die Verzweiflung, ein Nicken für die Gewissheit, ein Nicken für die Panik. Rabenaas! Das eine Wort sagte ihr alles. Trude sah es vor sich, als hätte sie ihn begleitet in der Nacht. Die junge Amerikanerin war noch bei Heinz gewesen, als Ben auftauchte. Er hatte sie gesehen, und … Sie wisse sich die Kerle schon vom Leib zu halten, hatte sie zu Jakob gesagt. Das tat sie bestimmt nicht mit Freundlichkeit.
«Hat die Frau mit dir geschimpft?», fragte Trude. «Hast du sie Bange gemacht? Du weißt doch, dass du das nicht tun darfst! Hast du ihr die Jacke weggenommen? Sie hat sie dir bestimmt nicht geschenkt. Du kannst sie nicht behalten. Jetzt gib sie mir.»
Als er immer noch trotzig den Kopf schüttelte, die Jackenärmel mit beiden Händen festhielt, versuchte sie es mit Schmeicheln und Loben. «Du bist doch mein guter Ben. Du bist mein Bester. Sei lieb und gib mir die Jacke. Du bekommst etwas Feines dafür, ein großes Eis. Und heute Nachmittag gehen wir zu Sibylle, wir essen Kuchen. Und am Montag fahren wir mit dem Bus in die Stadt. Du magst doch mit dem Bus fahren. Wir gehen in die Kaufhalle. Wenn dir so ein buntes Ding gefällt, kaufe ich dir eins.»
Leicht fiel es ihm nicht, mit sichtlichem Unwillen zerrte er sich die Jacke vom Leib, reichte sie Trude und drückte sich erneut mit dem Rücken gegen die Wand. Seine trotzig schmollende Miene hätte Trude beinahe zu einem Lächeln veranlasst. Aber dafür war später Zeit, wenn es noch einen Grund zum Lächeln geben sollte.
Sie untersuchte den Stoff auf Risse und Blutflecken,was in dem Farbgemisch nicht einfach war. Doch die Jacke war ebenso sauber wie das Höschen aus dem Hühnerstall. Es gab keine Beschädigungen und nicht einen roten Fleck, der nicht an seinen Platz gehört hätte.
Trude brachte das bunte Ding in den Flur, hängte es an einen Garderobenhaken, ging zurück in die Küche, schnitt vor dem Schrank stehend Brot, bestrich es mit Butter und belegte es mit Wurst, während er sich an den Tisch setzte. Sie hörte das Schaben der Stuhlbeine auf dem Fußboden, schnitt die Brote in der Hälfte durch. Das alles tat sie mechanisch wie eine gut funktionierende Maschine. Im Kopf jagten sich die Bilder.
Eine junge Frau auf dem Rückweg ins Dorf. Eine laue Nacht, den Rucksack auf dem Rücken, die Jacke lose über dem Arm. Sie hört Schritte hinter sich oder sieht den massigen Schatten vor sich. Jakob hätte ihr sagen müssen, dass Ben nachts draußen herumlief, dass er gutmütig und völlig harmlos war, wenn man nur freundlich mit ihm umging. Dann hätte sie sich nicht vor ihm erschrocken, hätte nicht rennen müssen, hätte nicht beim Rennen ihre Jacke verloren.
Dann drehte Trude sich zum Tisch um. Und zum ersten Mal, seit er ihr die Jacke gegeben hatte, fiel ihr Blick auf seinen Rücken. Der Teller mit den Broten entglitt ihrer Hand und zerbrach auf dem Steinboden. Die Splitter spritzten in alle Richtungen. Sein Hemd war auf dem Rücken nicht mehr kariert. Es war einheitlich gefärbt von einem fast schwarzen Rot. «Nein», sagte Trude und schüttelte heftig den Kopf. «Nein!»
Oben auf den Schultern war der Stoff sauber, es begann ein bisschen tiefer. Da war er steif von getrocknetem Blut. Auch der Riemen, den er um die Taille trug, war schwarz.
Trude brauchte länger als fünf Minuten, um dasEntsetzen abzuschütteln. Dann riss sie an seinem Arm,
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