Der Puppengräber
nichts zu Ohren kam.
Mit Jakob war es nicht mehr wie früher. Der Ärger in all den Jahren, sein Misserfolg bei der Bergung, den er als persönliches Versagen wertete, die Vorschriften und Belehrungen, zuletzt die Aufforderung der Stadt und die Rechnung für den Feuerwehreinsatz, es hatte ihn mürbe gemacht. Manchmal wirkte er geistesabwesend, betrachtete Ben mit verlorenem Blick.
Trude wusste, was in seinem Kopf vorging. Dass er sich fragte, ob sie nicht entschieden weniger Probleme hätten, wenn der Sohn aus dem Haus sei. Dann könnte man an seiner Stelle die jüngste Tochter heimholen und wieder auf die Zukunft hoffen. Es reichte Jakob nicht mehr, die kleine Tanja bei Paul und Antonia zu besuchen. Ein paarmal klangen Bemerkungen an, dass ein gutes Heim nicht die schlechteste Lösung wäre. Da gäbe es Fachkräfte, da hätten sie Möglichkeiten, einem, der nichts begriff, ein paar lebensnotwendige Grundregeln beizubringen. Es klang, als spräche Erich Jensen. Jedes Wort war ein Nadelstich in Trudes Herz.
Als Jakob im Frühjahr 83 darauf bestand, Tanja bei sich zu haben, schwitzte Trude Blut und Wasser. Bis dahin hatte sie Ben mit viel Zeitaufwand und Vanilleeis dasBaumhaus und die alte Viehtränke noch einmal schmackhaft machen können. Fast den gesamten Herbst und die milden Tage des Winters hatte er sich im Birnbaum aufgehalten oder die dünne Eisschicht auf der Tränke zerkratzt. Aber wenn ihm nun wieder ein Mädchen vor die Augen geriet und ausgerechnet Jakobs Herzblatt, es war nicht auszudenken.
Um das Schlimmste zu verhindern, kaufte Trude eine Puppe. Er hatte lange keine mehr gehabt. Irgendwann war Anitas Bett abgeräumt gewesen, auch auf Bärbels Bett saßen keine mehr. Und Jakob war strikt dagegen gewesen, Nachschub zu kaufen. Jetzt erhob er keine Einwände. Es war ein schönes Exemplar, noch etwas größer als die jüngste Tochter, mit einem richtigen Kindergesicht und Haar auf dem Kopf. Sie kostete ein kleines Vermögen. Doch wenn Trude gehofft hatte, ihn damit abzulenken, wurde sie bitter enttäuscht.
Eine knappe halbe Stunde saß er auf dem Fußboden in der Küche, hielt die Puppe im Schoß, untersuchte deren Bekleidung, hob den Rock und grinste, als sein Blick auf das weiße Spitzenhöschen fiel. Dann äugte er zu Trude hin. Irgendwie, fand sie, hatte sein Blick etwas Verschlagenes. Als sie drohend den Finger hob, das übliche «Finger weg!» in die Küche donnerte, zog er den Rock wieder über die Puppenbeine und klimperte gelangweilt mit den Schlafaugen. Eine halbe Stunde, genauso lange, wie Jakob brauchte, um Tanja erst einmal nur für den Sonntag bei Paul und Antonia abzuholen.
Kaum trat Jakob mit dem Kind auf dem Arm in die Küche, war das kleine Vermögen in den Wind geschrieben. Ben war auf den Beinen, ehe Trude sich versah, stand vor Jakob, grinste in das runde Kindergesicht, streckte zögernd die Hand aus und strich über das Haar der kleinen Schwester.
Jakob grinste ebenfalls vor Vaterstolz. «Später», sagte er. «Wenn du lieb bist, darfst du später ein bisschen mit ihr spielen.»
Dann ging Jakob ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und nahm Tanja auf seinen Schoß. Ben folgte bis zur Tür, lehnte sich mit der Schulter gegen den Rahmen und ließ keinen Blick von der Kleinen. Eine Stunde später erinnerte Jakob sich an sein Versprechen, klopfte mit der flachen Hand neben sich auf die Couch, forderte in teils misstrauischem, teils jovialem Ton: «Na, dann komm. Setz dich neben mich, dann darfst du sie mal halten.»
Bis dahin hatte Ben sich nicht von der Stelle gerührt. Nun war er mit drei Schritten um den Tisch herum, ließ sich neben Jakob auf die Couch fallen und ächzte, als sein Vater ihm das Kind auf den Schoß setzte. Trude hielt den Atem an. Doch unter Jakobs scharfem Blick drückte Ben nur die gespitzten Lippen auf die Kinderwangen, strich mit den Fingerspitzen über das weiche Haar und legte seine Wange auf den Scheitel seiner Schwester.
Tanja war vom ersten Augenblick an sehr zutraulich. Sie ließ sich wenig später ohne Widerstand auf den Arm nehmen, nachdem Trude ihrem Sohn gezeigt hatte, wie man ein kleines Mädchen richtig auf den Arm nahm. Obwohl er sie reichlich ungeschickt hielt, hatte Tanja ihren Spaß. An die rauen Zärtlichkeiten großer Brüder war sie durch den ständigen Umgang mit Andreas und Achim Lässler gewöhnt. Und im Gegensatz zu den Lässler-Jungs protestierte Ben nicht, als sie mit beiden Händen in sein Haar griff und daran zerrte.
Am
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