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Der Puppengräber

Der Puppengräber

Titel: Der Puppengräber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Nachmittag durfte er sie über den Hof tragen. Jakob hatte im Schweinestall zu tun, war somit in unmittelbarer Nähe. Trude überwachte es zusätzlich vom Küchenfenster aus, hörte das Plappern ihrer Jüngsten,Bens zufriedenes Brummen, und dabei löste sich der eiserne Ring um die Brust langsam.
    Als Jakob das Kind abends in den Wagen setzte und mit ihm vom Hof fuhr, stand Ben neben dem Tor und winkte sich fast die Arme vom Leib. Dann kam er zu Trude in die Küche, setzte sich auf den Fußboden und beschäftigte sich wieder mit der neuen Puppe.
    Nachdem der erste Versuch so reibungslos verlaufen war, kam das Kind regelmäßig an den Wochenenden heim. Im Sommer 83 richtete Jakob ein Zimmer für seine jüngste Tochter her in der Hoffnung, sie für immer heimholen zu können, sobald sie sich eingelebt hatte. Trude schaffte es, ihm das auszureden. Das Kind war gut aufgehoben bei Paul und Antonia. Es wuchs friedlich und liebevoll umsorgt auf, hatte in Britta Lässler eine Spielgefährtin, die man ihm daheim nicht bieten konnte.
    Daheim war nur Bärbel, die sich strikt weigerte, Babysitter zu spielen, die auch keine Zeit hatte. Bärbel war vollauf beschäftigt, Bewerbungen für eine Lehrstelle zu schreiben und zu Vorstellungsgesprächen zu fahren. Danach war sie meist nicht mehr ansprechbar, weil man sie wieder auf das Abschlusszeugnis der Schule vertröstet hatte. Und da war Ben, liebevoll und sanft im Umgang mit der kleinen Schwester, aber, wie Trude mit einem Schulterzucken einräumte, auch ein wenig unberechenbar.
    Jakob verzichtete mit blutendem Herzen, begnügte sich damit, sie sonntags und in Ausnahmefällen für einen oder zwei Tage in der Woche heimzuholen. War sie daheim, packte er morgens eine Ersatzwindel, zwei Scheiben Weißbrot mit Marmelade und eine Flasche Tee in seinen Frühstückskorb und nahm sie mit hinaus. Mittags brachte er sie heim für eine Stunde Schlaf. Am Nachmittag spielte sie unter Trudes Aufsicht im Hof, währendBen zuvor unter allen möglichen Versprechungen und mit den Händen voll Vanilleeis und Schokoladenriegel ins Baumhaus geschickt worden war.
    Nur blieb er dort nie. Und jedes Mal, wenn er in ihre Nähe kam, spürte Trude die Furcht wie eine Faust ums Herz. Sibylles Worte gingen ihr nicht aus dem Sinn, die beiden Angriffe auf fremde Mädchen schienen sie zu bestätigen. Und dann so ein kleines, hilfloses Wesen wie Tanja   … Trude fegte den Hof, bis dort kein Hälmchen mehr lag, stand am Küchenfenster, während sich hinter ihr die Bügelwäsche türmte, rannte immer wieder hinaus, um zu verhindern, dass Ben die Kleine in die Scheune trug.
    Es hagelte Schimpfe und Schläge für ihn, der Zeigefinger hing so oft drohend in der Luft, dass Trudes Arm gegen Abend schmerzte. War so ein Tag überstanden, konzentrierte Trude ihre Liebe wieder auf ihn, weil er doch sonst nicht viel vom Leben hatte. Für jeden Schlag entschädigte sie ihn mit einer Leckerei, für jedes Schimpfwort bekam er ein Streicheln. Und manchmal ein paar Tränen, weil er das eine mit dem anderen nicht in Verbindung brachte. Weil man ihm nicht erklären konnte, warum er dies und jenes lassen musste. Und wenn andere es hundertmal taten, er durfte es nicht tun.

26.   AUGUST 1995
    Kurz vor drei kam Jakob nach Hause. Es war kein Essen zubereitet. Trude saß am Küchentisch und starrte vor sich hin. Im Vorbeigehen bemerkte Jakob die Jacke am Garderobenhaken. Beim ersten Mal klang seine Stimme nur erstaunt: «Wo kommt die denn her?» Dreimal mussteer fragen, die Stimme von Mal zu Mal um einen Ton schärfer, ehe Trude den Kopf hob.
    Sie schaute ihn an, als sei er aus Glas. Dann erklärte sie mit teilnahmsloser Stimme: «Ben hat sie auf der Apfelwiese gefunden. Er ist wieder durch den Draht gekrochen. Frag mich nicht, wie sein Rücken aussieht, alles zerstochen und zerschnitten. Sein Hemd hab ich weggeworfen, es war völlig zerrissen. Da hätte sich das Flicken nicht mehr gelohnt. Blutig war es natürlich auch.»
    «Gefunden», sagte Jakob gedehnt, auf ihre restliche Erklärung ging er nicht ein. Er ließ einen langen Atemzug folgen, kam zum Tisch und blieb neben ihr stehen. «Wann denn?»
    Sie hob flüchtig die Achseln. «Heute Morgen, so gegen zehn. Er ist nach dem Frühstück ein bisschen draußen herumgelaufen.» Dabei blieb sie, auch als Jakob energischer wurde. Nein, Ben war in der Nacht nicht draußen! Auf Ehre und Gewissen und beim Grab von Trudes Mutter nicht! Er war in seinem Bett. Trude hatte es doch gesagt am

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