Der Puppengräber
Morgen. Hätte Jakob nachgeschaut, hätte er sich selbst davon überzeugen können. Anscheinend hatte Ben sich gestern auf seinem Streifzug völlig verausgabt. Trude hatte ihn wecken müssen. Das war noch nie vorgekommen. Erst nach dem Frühstück war er hinausgelaufen, aber nicht lange draußen geblieben. Verständlicherweise, wo er sich so böse am Stacheldraht verletzt hatte. Während sie sprach, schaute sie unentwegt in die Diele.
Die Jacke hing harmlos vom Garderobenhaken. Und Jakob hatte das Gefühl, als bohre sich ihm dieser Haken zwischen die Schulterblätter. Er setzte sich Trude gegenüber, griff nach ihren Händen und hielt sie auf der Tischplatte fest. Dann räusperte er sich und sagte: «Das kann aber auch anders gewesen sein. Du warst doch nichtdabei. Du willst mir ja wohl nicht erzählen, du wärst mit ihm zur Wiese gelaufen.» Nach ein paar Sekunden fügte er an: «Ich wollte gestern schon mit dir darüber reden.»
Sie hatte keinen Blick für ihn. Jakob ließ die Augen nicht von ihrem Gesicht, wartete auf ein Zucken, ein Blinzeln, auf irgendeine Reaktion, die anzeigte, dass sie in den letzten Stunden nicht völlig versteinert war. Ob sie ihm tatsächlich zuhörte, war nicht zu erkennen.
In bedächtigem Ton und sorgfältig gewählten Worten schilderte er, was ihm seit gestern durch den Kopf ging. Die Zeitungen! Der Verdacht, dass sie beide insgeheim einen Verdacht gegen den eigenen Sohn hatten. Und wenn das so war, musste es Gründe geben. Seine eigenen Gründe legte er ehrlich und offen auf den Tisch.
«In all den Jahren hast du Angst gehabt, dass er sich an Tanja vergreift. Mich hast du damit ganz verrückt gemacht. Nachher hab ich es auch geglaubt. Aber er hat ihr nie etwas getan. Er hat ihr auch am Montag nichts getan, hat sie nur in die Arme genommen, wie er es immer tut. Und ich dachte, wenn ihm nun ein fremdes Mädchen über den Weg läuft, und er versucht das bei dem, dann geht das nicht so glimpflich ab. Du weißt doch, wie das ist. Er wird angebrüllt und beschimpft.»
Endlich kam, worauf Jakob sehnlichst hoffte; Trude nickte. Er drückte ihre Hände fester, legte noch ein wenig mehr Überzeugungskraft in seine Stimme und versicherte: «Ich glaub nicht, dass er Erichs Tochter was getan hat.» Dann kam der Satz, vor dem er sich fürchtete. «Aber in dem Glas, das ich am Sonntag aus seinem Zimmer geholt hab, war ein Fetzen. Er war dreckig, kann sein, dass er blau war. Und in der Zeitung stand, sie hatte eine blaue Jacke. Ich hab dir nichts davon gesagt, weil ich nicht wollte, dass du dich aufregst. Aber ich hab mir gedacht: Wer weiß, was er dir immer heimbringt?Mir sagst du es ja nicht. Hat er noch mehr gebracht als diesen Fetzen?»
Trude schüttelte stumm den Kopf. Jakob nickte schwerfällig. «Vielleicht», sagte er gedehnt, «sollten wir mal mit Heinz sprechen. Man müsste ihn wenigstens fragen, wann Edith, ich meine, Frau Stern bei ihm weggegangen ist. Vielleicht weiß er auch, wohin sie wollte. Willst du ihn nicht mal anrufen?»
Trude schüttelte erneut den Kopf, heftiger diesmal, dabei lachte sie hysterisch. «Ich? Ruf du ihn doch an. Und was machst du, wenn er dir sagt, es wäre ja nur eine Sachbeschädigung?»
Jakob konnte sich auf diese Bemerkung keinen Reim machen und kam nicht dazu, zu fragen, was das heißen sollte. Trude atmete vernehmlich durch und erklärte: «Frau Stern wird ihre Jacke verloren haben. Ben kann ihr nichts getan haben, weil er nicht draußen war. Ich hab nämlich die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich hätte gehört, wenn er rausgegangen wäre. Und um fünf war ich schon auf, da war er in seinem Bett. Ich hab’s dir gesagt, als ich dich geweckt habe. Warum hast du nicht nachgeschaut? Dann müssten wir jetzt nicht so reden.»
Ein paar Sekunden war sie still, nur ihre Atemzüge hingen schwer in der Luft. Schließlich fragte sie: «Bist du ganz sicher, dass es die Jacke von der Frau Stern ist?»
Jakob nickte zuerst nur, erklärte dann: «Völlig sicher! Und ich frage mich, wie sie auf die Wiese gekommen sein soll. Die ist doch eingezäunt. Kein Mensch ist so verrückt wie Ben, sich durch den Stacheldraht zu arbeiten.»
«Weiß man’s?», meinte Trude. «Wenn einer was zu verbergen hat, ist er vielleicht noch verrückter.»
Dann schwiegen sie beide, jeder mit seinem Innersten beschäftigt. Trude sah den Hemdrücken vor sich, steif von getrocknetem Blut. Sie fragte sich, ob sie im allerschlimmstenFall einfach behaupten solle, Ben habe ihr erzählt, er
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