Der Rabbi
er mit seinem Fund zur Tür und las im Lichte der Vorzimmerlampe:
»Trojan-Gummi sind auf unseren Spezialmaschinen auf ihre Undurchlässigkeit geprüft. Young Rubber Corporation Manufacturer, Trenton, N.J., New York, N.Y.«
Michael erschrak. War das möglich - dieser Junge, der noch Ball spielte und ihn heute morgen erst Daddy genannt hatte? Und mit wem? Mit irgendeiner gleichgültigen, vielleicht kranken Schlampe? Oder, schlimmer noch, mit diesem reinen rothaarigen Kind, Gott behüte? Er hielt das Ding gegen das Licht. Die Verpackung war eingerissen. Er erinnerte sich, daß er selbst es vor langer Zeit für ein Zeichen männlicher Reife gehalten hatte, derlei bei sich zu tragen, wenn schon nicht zu verwenden.
Als er das Päckchen mitsamt der Brieftasche wieder an seinen Platz steckte, fielen ein paar Münzen aus der Hosentasche. Sie klirrten auf den Boden und rollten durch das ganze Zimmer. Michael hielt den Atem an, in der Erwartung, der Junge werde nun aufschrecken und erwachen, aber Max schlief tief wie ein Süchtiger.
Das ist das nächste, dachte Michael bitter - wie ein Süchtiger... Er kniete nieder, nicht um wie ein Christ zu beten, sondern um den Boden mit den Händen abzusuchen. Unter dem Bett fand er zwei Cents, einen Vierteldollar, einen Penny, drei Socken und viel Staub. Es gelang ihm, die meisten Münzen einzusammeln, er steckte sie zurück in die Hosentasche und ging dann ins Erdgeschoß, um sich die Hände zu waschen und Kaffee zuzustellen. Er trank die zweite Tasse, als in den Mitternachtsnachrichten der Name eines Mannes aus seiner Gemeinde genannt wurde: Gerald I. Mendelsohn stand auf der Liste der kritischen Fälle von Woodborough General Hospital. Während der Nachtschicht in der Suffolk-Gießerei war sein rechtes Bein zwischen zwei schweren Maschinenteilen eingeklemmt worden.
Erschöpft dachte er: Die Mendelsohns sind neu in der Stadt, haben wahrscheinlich noch keine Freunde hier...
Zum Glück war er noch nicht im Pyjama. Er kleidete sich fertig an -
Krawatte und Jackett, Mantel, Hut und gefütterte Oberschuhe - und verließ das Haus so leise wie möglich. Die Straßen waren in schlimmem Zustand. Schlitternd und im Kriechtempo lenkte er den Wagen vorbei an dunklen Häusern, deren Bewohner er um ihren Schlaf beneidete.
Mendelsohns bleiches, unrasiertes Gesicht erinnerte an ein Kreuzigungsbild. Sein Bett stand in einem Zimmer neben dem Saal mit den frisch eingelieferten Fällen, und er lag darin, betäubt von Medikamenten, aber dennoch laut stöhnend.
Seine Frau litt mit ihm. Sie war eine kleine attraktive Person, mit braunem Haar, großäugig und flachbrüstig, und mit sehr langen rotlackierten Fingernägeln.
Michael mußte scharf nachdenken, um auf ihren Namen zu kommen: Jean. Hatte sie ihm nicht ihre Kinder zum Hebräisch Unterricht in den Tempel gebracht? »Ist jemand bei den Kindern?«
Sie nickte. »Ich habe sehr nette Nachbarn, reizende Iren.« Sie hatte New Yorker Akzent - vielleicht Brooklyn?
Aber sie war aus Flatbush. Er setzte sich zu ihr und sprach von den Orten, an denen er schon gewesen war. Vom Bett her klang in regelmäßigen Abständen das Stöhnen.
Um 2 Uhr 15 führten sie Mendelsohn weg, und Michael wartete mit der Frau auf dem Gang, während das Bein amputiert wurde. Nachdem es passiert war, schien sie erleichtert. Als er ihr endlich gute Nacht wünschte, waren ihre verweinten Augen schläfrig und ruhig.
Auf der Heimfahrt hörte es zu schneien auf. Die Sterne schienen sehr nahe.
Als er während der Morgenrasur in den Spiegel sah, entdeckte er, daß er nicht mehr jung war. Das Haar war schütter, seine Hakennase glich immer stärker den Judennasen auf antisemitischen Cartoons. Das Fleisch war nicht mehr straff, und der Seifenschaum zitterte auf seinen schlaffen Wangen. Wie ein Blatt, das welk wird, dachte er; eines Tages fällst du vom Baum, und alles geht weiter wie bisher, und kaum einer merkt, daß du nicht mehr da bist. Er wurde gewahr, daß er sich nur mehr undeutlich an seinen Frühling erinnern konnte. Und jetzt war es unwiderruflich Herbst.
Fast war er froh, daß das Telephon ihn vom Spiegel rief. Dr. Bernstein war am Apparat, zum erstenmal in den vier Wochen von Leslies Elektroschockbehandlung; er zerstreute jedoch sofort Michaels Befürchtungen.
»Sie kann euch daheim besuchen, wenn sie will«, sagte er nebenbei.
»Wann?«
»Wann Sie wollen.«
Michael sagte zwei Termine ab und fuhr geradewegs zum Krankenhaus.
Sie saß in ihrem winzigen Zimmer. Ihr
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