Der Rabbi
Körper und fühlte allen Reichtum dieses feuchten sanften Leibes, während sie lautlos weinte, ein Weinen, das ihm das Herz brach, voll Schwermut und ohne Hoffnung: »Michael, ich will nicht mehr dorthin zurück. Ich kann nicht mehr.«
»Es ist ja nicht mehr für lange«, sagte er. »Nicht mehr für lange, ich verspreche es dir.« Doch sie verschloß ihm den Mund mit dem ihren, voll Leben und Liebe und Zahnpastageschmack. Nachher nahm sie das Leintuch, trocknete erst ihm und dann sich die Augen. »Was sind wir doch für zwei Narren.«
»Willkommen zu Hause.«
»Danke schön.« Sie stützte den Kopf in die Hand, sah Michael sekundenlang an und lächelte vergnügt - lächelte das tägliche vergnügte Lächeln seiner Tochter, nur reifer und wissender. Er sprang aus dem Bett zum Toilettentisch, griff nach Kamm und Bürste, stürzte zurück und unter die Decke, während sie ihm lachend zusah. Dann entfernte er das häßliche Gummiband von ihrem Haar, so daß es ihr offen und schön über die Schultern fiel, wie sie da aufrecht saß, die Steppdecke bis an das Kinn. Und er bürstete ihr Haar und teilte es sorgsam, genau wie bei Rachel. Dann warf er das Gummiband an die Wand, denn jetzt war seine Frau wieder so, wie er sie durch und durch kannte.
Max und Rachel waren an diesem Abend sehr schweigsam, aber sie folgten ihrer Mutter wie ein doppelter Schatten.
Nach dem Abendessen hörten sie Schallplatten, Leslie sitzend mit Max zu ihren Füßen und Rachel auf dem Schoß, Michael auf der Couch liegend und rauchend.
Es war schwierig, den Kindern beizubringen, daß sie ins Krankenhaus zurück mußte, aber sie tat das wie selbstverständlich und mit jener Geschicklichkeit, die er stets an ihr bewundert hatte. Rachel mußte um neun ins Bett, und Leslie bestand darauf, daß Max, nachdem er sie geküßt hatte, seine Schulaufgaben erledigte.
Während der Rückfahrt sprach sie fast nichts. »War das ein Tag«, sagte sie nur. Dann nahm sie seine Hand und hielt sie lange fest. »Kommst du morgen?«
»Natürlich.«
Auf dem Heimweg fuhr er langsam. Oben spielte Max auf seiner Harmonika, und Michael hörte ihm eine Zeitlang rauchend zu.
Schließlich ging auch er hinauf und schickte Max ins Bett, dann duschte er lange und zog seinen Pyjama an. Er lag wach im Dunkeln. Der Wind draußen kam in Stößen, rüttelte am Haus und klapperte mit den Fensterläden. Das Messingbett schien so groß und leer wie draußen die Welt. Lange blieb er so wach und betete.
Bald nachdem er eingeschlafen war, schrie Rachel angstvoll auf und begann zu schluchzen. Als sie zum zweitenmal aufschrie, hörte er es, erhob sich und eilte barfuß über den kalten Korridor zu ihrem Zimmer, wo er sie aufnahm und an die Wandseite des Bettes legte, damit auch er Platz darin finde.
Sie aber schluchzte weiter im Schlaf, mit tränennassem Gesicht. » Scha «, sagte er, sie in den Armen wiegend, » scha, scha, scha .« Sie öffnete die Augen, im Finstern wie weiße Schlitze in dem herzförmigen Gesicht.
Auf einmal lächelte sie und preßte sich an ihn, und er fühlte ihre nasse Wange an seinem Hals.
Fejgele, dachte er, Vögelchen. Er wußte noch gut, was ihn bewegt hatte, als er so alt war wie sie und sein Vater fünfundvierzig wie er. Mein Gott, jetzt stand ihm sein sejde wieder vor Augen, kaum älter als er selbst.
Er lag jetzt sehr still in der Dunkelheit und beschwor das alles herauf.
Brooklyn, New York September 1925
4
Damals, als Michael noch klein war, mußte seines Großvaters Bart wohl schwarz gewesen sein. Aber daran konnte er sich nicht erinnern. Er wußte nur, wie der Großvater ausgesehen hatte, als er, Michael, selbst schon ein junger Mann war: damals war Isaac Rivkinds Bart dicht und weiß, und er wusch ihn jeden dritten Tag sorgfältig und kämmte ihn liebevoll und eitel, so daß er weich sein hartes dunkles Gesicht umrahmte, niederfließend bis zum dritten Hemdknopf. Der Bart war das einzig Weiche an Isaac Rivkind. Er hatte eine Raubvogelnase und Augen wie ein erzürnter Adler. Sein Schädel war kahl und glänzend wie poliertes Elfenbein, umrahmt von einem Kranz lockiger Haare, die nie so weiß wurden wie sein Bart, sondern dunkelgrau blieben bis zum Tod.
In Wirklichkeit liebte Michaels Großvater die Welt so zärtlich wie eine Mutter ihr todkrankes Kind, aber diese Liebe lag verborgen unter einer dicken Kruste von Angst: Angst vor den Christen. Das hatte in Kischinew begonnen, in Bessarabien, wo Isaac geboren war...
Kischinew war
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