Der Rabbi
Michael zu, wie er mit einer 25 Pfund-Hantel in jeder Hand Welle um Welle vollführte und wie sein Bizeps dabei schwoll und sich spannte.
Sein dichtes schwarzes Haar war kurz geschnitten und immer sorgfältig gebürstet, und seine Haut war tief gebräunt, sommers von der Sonne und winters von der Bestrahlungslampe. Mit Männern kam er gut aus, aber noch erfolgreicher war er bei der weiblichen Kundschaft. Er war ein gutaussehender Mann mit blauen Augen, die immer zu lachen schienen.
Jetzt aber war nur Ernst in seinen Augen. »Zeit zum Abendessen«, sagte er. »Gehen wir.«
Aber Michael und sein Großvater rührten sich nicht.
»Papa, hast du überhaupt zu Mittag gegessen?« fragte der Vater. Der sejde zog die Stirn in Falten. »Aber natürlich, was glaubst du denn, bin ich ein Kind? Ich könnt noch heut wie ein Fürst in Williamsburg leben, wenn du und dein sauberes Weib nicht eure Nasen hineingesteckt hättet. Aber ihr habt mich ja dort weggeschleppt, und jetzt wollt ihr mich ins Museum stecken.«
Der Vater setzte sich auf eine Orangenkiste. »Papa, ich war heute im Sons of David-Heim. Ein wirklich schönes Haus - ein wirklich jiddisches Haus.«
»Ach, laß mich in Ruh.« »Papa, ich bitt dich.«
»Jetzt hör einmal zu, Abe. Ich werd deiner sauberen Frau aus dem Weg gehen. Soll sie trefe kochen die ganze Woche, ich werd nichts mehr sagen.«
»Mr. Melnick ist auch dort.«
»Reuven Melnick aus Williamsburg?«
»Ja. Er läßt dich grüßen. Er ist sehr gern dort, sagt er. Essen ist wie in den Catskills, sagte er, und jeder Mensch redet jiddisch, und eine schul haben sie im Haus, und an jedem schabess kommt der Rabbi herein und der Kantor.«
Der sejde hob Michael von den Knien und stellte ihn auf den Boden.
»Abe, du willst mich also aus dem Haus haben. Du willst das wirklich?« Er sagte es jiddisch und so leise, daß Michael und dessen Vater ihn kaum verstehen konnten.
Auch der Vater sprach leise. »Papa, du weißt, daß ich es nicht will.
Aber Dorothy will, daß wir allein sind, und sie ist meine Frau.« Er blickte weg.
Der Großvater lachte auf. »Also gut.« Es klang beinah fröhlich. Er nahm einen leeren Weizenflockenkarton, packte seine Kom-mentarbände hinein, seine Pfeifen, sechs Dosen Prince Albert, Schreibpapier und Bleistifte. Dann ging er zum Bohnenfaß, brachte daraus die Whiskyflasche zum Vorschein und legte sie obenauf in den Karton. Dann verließ er Rivkinds Gemischtwarenladen, ohne sich umzublicken.
Am nächsten Morgen brachten ihn Michael und sein Vater zum Alters-und Waisenheim der Sons of David. Im Wagen redete der Vater krampfhaft-angeregt drauflos. »Du wirst sehen, Papa, das Zimmer wird dir gefallen«, sagte er. »Es liegt direkt neben Mr. Melnicks Zimmer.«
»Red nicht so blöd daher, Abe«, sagte der Alte nur. »Reuven Melnick ist ein altes Waschweib, das redet und redet und redet. Schau lieber, daß ich ein anderes Zimmer kriege.«
Der Vater räusperte sich irritiert. »Ist schon recht, Papa«, sagte er.
»Und wer wird im Geschäft sein?« fragte steinern der Alte. »Ach, mach dir da keine Gedanken. Ich verkauf's und leg dir das Geld auf dein Konto. Du hast dich lang genug geplagt, du hast dir die Ruhe verdient.«
Das Sons of David-Heim war ein langer gelber Rohziegelbau in der llth Avenue. Draußen auf dem Gehsteig standen ein paar Stühle herum, auf denen drei alte Männer und zwei alte Frauen in der Sonne saßen. Sie redeten nicht, sie lasen nicht, sie saßen nur da. Eine der alten Damen lächelte dem Großvater zu, als sie dem Wagen entstiegen. Sie trug einen zimtfarbenen schejtl, eine Perücke, die ihr schlecht auf dem Kopf saß. Ihr Gesicht war über und über verrunzelt.
»Schalom«, sagte sie, als die drei ins Haus gingen. Aber sie erhielt keine Antwort. In der Aufnahmekanzlei nahm ein Mensch namens Mr. Rabinowitz des Großvaters Finger in beide Hände und hielt sie fest.
»Ich hab schon viel von Ihnen gehört«, sagte er. »Sie werden sehen, es wird Ihnen gefallen bei uns.«
Der Großvater lächelte eigentümlich, während er den Weizenflockenkarton unter den anderen Arm klemmte. Mr. Rabinowitz warf einen Blick hinein.
»Aber, aber - das geht doch nicht«, sagte er, griff hinein und holte den Whisky heraus. »Das ist gegen die Hausordnung, außer der Doktor hat's Ihnen verschrieben.«
Großvaters Lächeln wurde noch eigener.
Dann führte Mr. Rabinowitz sie durch das Haus. Er führte sie in den Betsaal, wo eine Menge Jahrzeitlichter für die Toten
Weitere Kostenlose Bücher