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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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den Wald meditierte er über Thoreau und die Antwort, die jener dem Bauern wohl gegeben hätte, und als er etwa die halbe Strecke zur Straße zurückgelegt hatte, begann es zu regnen. Er ging weiter, aber bald, als der Baumbestand schütter und der Regen heftiger wurde, begann er zu laufen. Er war schon lange nicht mehr gelaufen, und obwohl seine Atemtechnik nicht die beste war und er bald keuchte, hielt er es durch, bis der Wald hinter ihm lag und er fast gegen ein großes Schild gerannt wäre, mit dem ein gewisser Joseph A. Wentworth der Welt mitteilte, daß dieses Land sein Besitz sei und widerrechtliches Betreten gesetzlich verfolgt werde. Als Michael endlich zu seinem Wagen kam, war er außer Atem und naß bis auf die Haut; er verspürte Seitenstechen und ein leichtes Zittern in der Magengrube und hatte das merkwürdige Gefühl, gerade noch mit heiler Haut davongekommen zu sein.
    Drei Tage später nahmen Leslie und er an einem Seminar der Universität von Pennsylvania teil. Zu dem Kolloquium, dessen Thema
    »Religion im Atomzeitalter« lautete, hatten sich Theologen, Naturwissenschaftler und Philosophen in einer Atmosphäre vorsichtiger interdisziplinärer Kollegialität zusammengefunden, die kaum eine Antwort auf die angesichts der Kernspaltung so dringlich gewordenen moralischen Fragen zeitigte. Max war in der Obhut einer Studentin zurückgeblieben, die sich bereit erklärt hatte, bei den Kinds zu übernachten; so hatten sie es nicht eilig, nach Hause zu kommen, und nahmen nach dem Seminar die Einladung eines Rabbiners aus Philadelphia an, in seinem Haus noch Kaffee zu trinken.
    Es war gegen zwei Uhr morgens, als sie sich im Wagen Wyndham näherten.
    Leslie hatte den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen, und Michael war der Meinung gewesen, sie schliefe, aber plötzlich sagte sie:
    »Es ist, als wären alle Menschen plötzlich in der Situation der Juden.
    Nur haben wir jetzt alle statt der Gaskammern die Bombe vor Augen.«
    Er dachte darüber nach, aber ohne zu antworten. Er fuhr langsam und versuchte schließlich, nicht mehr daran zu denken und die Frage zu vergessen, ob Gott auch dann noch dasein könnte, wenn sich die Welt plötzlich in Atomnebel auflöste. Die Nacht war mild, und der Augustmond hing rötlich wie eine Karottenscheibe tief am Himmel. Sie fühlten sich schweigend einander nahe, und nach einer Weile begann sie vor sich hin zu summen. Er hatte keine Lust, nach Hause zu fahren.
    »Magst du den Baugrund sehen?« fragte er. »Ja«, sagte sie und richtete sich interessiert auf. Die Straße, anfangs geteert, wand sich hügelaufwärts, wurde dann auf halber Höhe zu einer schmalen Schotterstraße und endete kurz vor dem Tempelgrundstück. Michael fuhr, soweit es möglich war; schließlich kamen sie an einem Haus vorbei, in dem eine Nachttischlampe aufflammte und wieder erlosch, nachdem der Wagen vorbeigeholpert war.
    Leslie lachte mit bitterem Unterton. »Die müssen uns für ein Liebespaar halten«, sagte sie.
    Michael parkte den Wagen am Ende der Straße. Sie gingen an einem Zaun und an einem schattenhaften Holzstapel vorbei, dann standen sie auf dem Tempelgrund. Es war mondhell, aber der Boden war uneben und schlüpfrig von den Blättern vieler vergangener Jahre; Leslie mußte ihre Schuhe ausziehen, Michael verstaute je einen in jeder Jackentasche und reichte seiner Frau die Hand.
    Allmählich konnten sie einen Fußpfad erkennen, und dem folgten sie langsam, bis sie den Gipfel der Anhöhe erreichten. Er hob sie auf einen Felsblock, und da stand sie, die Hand auf seine Schulter gestützt, und schaute hinunter auf die schwarze, vom Mond mit weißen Lichtflecken gesprenkelte Landschaft, die aussah wie die Landschaft in einem guten Traum. Leslie schwieg, aber der Druck ihrer Hand auf seiner Schulter verstärkte sich, bis es schmerzte, und zum erstenmal seit Monaten war sie für ihn wieder eine Frau, die er begehrte.
    Er hob sie vom Felsen, küßte sie und fühlte sich jung, als sie seinen Kuß erwiderte, bis sie merkte, worauf er aus war, und ihn fast gewaltsam von sich schob.
    »Du Narr«, sagte sie, »wir sind keine jugendlichen, die es notwendig haben, mitten in der Nacht in den Wald zu laufen. Ich bin deine Frau, und wir haben ein großes Messingbett zu Haus und Platz genug, uns nackt drauf herumzuwälzen, wenn es das ist, was du willst. Führ mich heim.«
    Aber das war es nicht, was er wollte. Er kämpfte mit ihr, lächelnd zuerst, doch dann plötzlich im Ernst, bis sie alle Gegenwehr

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