Der Rabbi
Michael: ein blonder Junge mit breitem Gesicht, sehr großen blauen Augen und einem halb verschämten Grinsen, das er wie eine Maske trug. Michael kannte ihn aus der Klasse als einen Jungen, der eine Menge komischer Fehler beim Aufsagen machte, und er begrüßte ihn lachend.
»Hi, Stash«, sagte er.
»Hi, Kleiner! Was hast du denn da?«
Stash meinte die drei Bücher, die Michael in der Hand trug: ein alef-bejss, aus dem er das hebräische Abc lernte, ein Heft und einen Band Erzählungen aus der Geschichte der Juden.
»Bloß ein paar Bücher«, sagte er.
»Wo hast du denn die her? Leihbücherei?«
»Hebräische Schule.«
»Was ist denn das?«
Er merkte, daß Stash sich nicht auskannte, und so erklärte er ihm: er gehe dorthin, wenn alle anderen aus ihrer Klasse schulfrei hätten.
»Laß anschauen.«
Mißtrauisch betrachtete Michael Stashs Hände, die dreckig waren von drei Stunden Spiel nach der Schule. Seine Bücher waren makellos und neu. »Lieber nicht.«
Stash faßte Michael am Handgelenk, und sein Grinsen wurde breiter. »Na komm schon! Laß anschauen.«
Michael war gute zehn Zentimeter kleiner als Stash, aber um vieles behender. Er entwand sich dem Griff und lief davon. Stash verfolgte ihn nur eine kurze Strecke und gab dann auf. Aber als Michael am nächsten Abend nach Hause ging, trat Stash plötzlich hinter einer Plakatwand hervor, wo er ihm aufgelauert hatte.
Michael versuchte zu lächeln: »Hi, Stash.«
Stash bemühte sich diesmal nicht einmal um den Anschein von Freundlichkeit. Er faßte nach den Büchern, und das alef-bejss fiel zu Boden. Ein paar Tage zuvor hatte Michael, tief beeindruckt, gesehen, wie ein junger Rabbiner ein paar Gebetbücher, die ihm hinuntergefallen waren, beim Aufheben ehrerbietig küßte. Etwas später erst sollte er zu seiner tiefen Beschämung lernen, daß man dies nur mit Büchern tut, die den Namen Gottes enthalten; aber damals glaubte er noch, ein Jude tue das mit jedem in hebräisch gedruckten Buch. Ein widernatürlicher Eigensinn zwang ihn, sich auf das Abc-Buch zu stürzen und seine Lippen darauf zu pressen, während Stash ihn verwundert anstarrte.
»Wozu hast du das gemacht?«
In der Hoffnung, daß ein Blick auf eine andere Lebensmethodik Stashs kämpferischen Eifer besänftigen könnte, erklärte ihm Michael, dieses Buch sei in hebräisch gedruckt, und deshalb müsse man es küssen, wenn es zu Boden gefallen sei. Das war ein Fehler. Stash erkannte sofort die Möglichkeit nicht enden wollender Belustigung, die darin bestand, das Buch immer wieder hinunterzuwerfen, so daß Michael sich immer wieder bücken und es küssen mußte. Als Michaels Hand sich zur Faust schloß, riß ihm Stash den Arm nach hinten und verdrehte ihn, bis Michael schrie.
»Sag: Ich bin ein dreckiger Jud.«
Michael schwieg, bis er glaubte, sein Arm müsse brechen, und dann sagte er es. Er sagte, daß die Juden Scheiße fressen, daß die Juden unseren Erlöser umgebracht haben, daß Juden sich Stückchen vom Schwanz abschneiden und sie am Samstagabend als Stew essen.
Um das Maß voll zu machen, riß Stash die erste Seite aus dem Abc-Buch und knüllte sie zu einem Ball zusammen. Als Michael sich bückte, um das zerknitterte Papier aufzuheben, trat ihn Stash mit solcher Kraft in den Hintern, daß er noch beim Davonlaufen vor Schmerz wimmerte. Nachts, allein in seinem Schlafzimmer, glättete er die Seite, so gut er konnte, und klebte sie wieder in das Buch.
In den folgenden Tagen wurde die Inquisition in Queens zur ständigen Einführung. Stash beachtete Michael in der Schule kaum, und Michael durfte so laut wie alle andern lachen, wenn der ältere junge eine Aufgabe völlig verpatzte. Aber mit dem letzten Glockenzeichen stürzte Michael davon, um noch vor Stash durch das polnische Viertel zu kommen. Und auf dem Heimweg von der Hebräischen Schule versuchte er es mit allen möglichen Umgehungen, um seinem Peiniger auszuweichen. Doch wenn Stash ihn ein paar Tage lang nicht erwischt hatte, erweiterte er seinen Aktionsradius um ein oder zwei Gassen und wechselte seine Positionen so lange, bis Michael schließlich doch in die Falle ging.
Dann entschädigte sich Stash jedesmal mit einer kleinen zusätzlichen Quälerei für den Spaß, den ihm Michael durch seine Ausweichtaktik vorenthalten hatte.
Aber Stash war nicht Michaels einzige Sorge. Die Hebräische Schule erwies sich bald als ein Ort, an dem es strenge Disziplin und keinen Spaß gab. Die Lehrer waren Laien, die man ehrenhalber mit
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