Der Rache kaltes Schwert - Crombie, D: Rache kaltes Schwert - And Justice there is None
hatte ich schon, als ich dich das erste Mal gesehen habe.«
Bryony lächelte. »Aber du hast mich trotzdem eingestellt.«
»Das habe ich, und ich habe es auch nicht bedauert. Du bist eine gute Tierärztin, und du kannst auch gut mit den Klienten umgehen, was fast genauso wichtig ist. Aber …«
»Was?«
»In unserer Branche wandeln wir nun einmal auf einem schmalen Grat zwischen Mitgefühl und nüchternem Geschäftssinn, und es würde mir gar nicht gefallen, wenn ich zusehen müsste, wie du stolperst. Es wird dich aufzehren, dieses Gefühl, nie genug tun zu können. Das habe ich schon bei hartgesotteneren Tierärzten erlebt. Mein Rat lautet: Mach deine Arbeit, so gut du kannst, und geh anschließend nach
Hause und setz dich mit einem Drink vor den Fernseher. Du musst irgendeine Möglichkeit finden, abzuschalten.«
»Danke, Gav. Ich werde es mir merken. Versprochen.«
Sie grübelte über seine Worte nach, während sie zu Fuß die kurze Strecke von der Praxis zu ihrer Wohnung am Powis Square ging. Natürlich wusste sie, wo die Grenze war; natürlich war ihr klar, dass sie nicht jedem Tier helfen konnte. Aber nahm sie tatsächlich mehr auf sich, als sie tragen konnte, sowohl in emotionaler als auch in finanzieller Hinsicht? Und wie sehr war sie durch den uneingestandenen Wunsch motiviert, auf Marc Mitchell Eindruck zu machen?
Im Lauf der letzten Monate waren sie und Marc gute Freunde geworden und hatten sich häufig zum Essen oder auf einen Kaffee verabredet. Aber er hatte sich Bryony gegenüber nie so verhalten, dass sie es wirklich als amouröse Absichten hätte interpretieren können. Und sie hatte geglaubt, sie hätte sich zu der Überzeugung durchgerungen, dass es ihr nichts ausmachte. Anders als Gavin hatte Marc nicht gelernt, die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zu ziehen. Seine Arbeit war sein Leben, und Bryony hatte den Verdacht, dass es in diesem Leben einfach keinen Platz mehr für irgendetwas Anspruchsvolleres als eine Freundschaft gab.
Dieser Gedanke war so schmerzlich, dass sie ihn sofort wieder verdrängte. Sie wollte doch nur den Tieren helfen, das war alles; und wenn das bedeutete, dass sie Marc ein wenig näher kommen konnte, dann war es eben einfach so.
Inspector Gemma James verließ die Polizeiinspektion Notting Hill pünktlich um sechs Uhr. Das war so ungewöhnlich, dass der Beamte am Empfang fragend die Stirn runzelte.
»Nanu, Inspector«, meinte er, »haben Sie etwa ein Date?«
»Richtig geraten«, antwortete sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Und ich bin entschlossen, ausnahmsweise einmal nicht zu spät zu kommen.«
Kincaid hatte sie vom Yard aus angerufen und sie gebeten, sich mit ihm nur wenige Häuserblocks vom Revier entfernt zu treffen. Er hatte ihr keine Erklärung geliefert, sondern nur darauf bestanden, dass sie pünktlich sein solle. Das allein hatte genügt, um ihre Neugier zu wecken. Als Superintendent der Mordkommission von Scotland Yard hatte Duncan einen mindestens ebenso anstrengenden Dienstplan wie sie selbst, und für beide waren Überstunden eher die Norm als die Ausnahme.
Natürlich hatte sie versucht, wegen ihres »delikaten Zustands«, wie Kincaid es halb scherzhaft nannte, ein wenig kürzer zu treten, jedoch mit wenig Erfolg. Sie hatte nicht die Absicht, ihre Vorgesetzten von ihrer Schwangerschaft in Kenntnis zu setzen, solange es sich noch irgendwie vermeiden ließ, und wenn es einmal so weit wäre, würde sie noch viel weniger Lust haben, um Urlaub zu bitten.
Und wenn eine ungeplante Schwangerschaft schon einigermaßen katastrophale Folgen für ihre Karriereaussichten als frisch beförderte Kriminalinspektorin haben musste, so würde die Tatsache, dass sie unverheiratet war, ihr noch weniger Sympathien von ihren Vorgesetzten eintragen. Als sie Toby bekommen hatte, war sie wenigstens mit dem Vater des Kindes verheiratet gewesen.
Sie überprüfte noch einmal die Adresse, die sie auf einen Zettel gekritzelt hatte, und ging die Ladbroke Grove entlang bis St. John’s Gardens, wo sie nach links abbog. Die alte Kirche stand wie ein Wachturm an der höchsten Stelle von Notting Hill, und selbst an einem so trüben Abend wie diesem genoss Gemma die Stille der Gegend. Aber Kincaids Wegbeschreibung ließ sie weitergehen, den Abhang hinunter Richtung Westen. Nachdem sie noch ein paar Häuserblocks hinter sich gelassen hatte, begann sie nach den Hausnummern Ausschau zu halten.
Als Erstes entdeckte sie seinen MG, dessen Verdeck wegen
des feuchten Wetters
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