Der Rache Suesser Klang
er wusste, dass sie mit ihm sprach. Ihre Hand war zärtlich. Seine Augen schlossen sich wieder. Er kämpfte, kämpfte gegen den Strudel, der ihn hinabzog. Dort unten war es schwarz, so finster.
Nein. Nicht wieder. Mom!
Evie sah auf, als ein Schatten über den Jungen fiel. »Er schläft wieder«, murmelte sie.
Jane verengte die Augen, entspannte sich jedoch wieder, als sie sah, dass mit ihrem Sohn alles in Ordnung war. »Ist er aufgewacht?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Nein, nicht wirklich. Er hat sich im Schlaf herumgeworfen.« Evie hatte eine volle Stunde bei Erik gesessen, ihn gestreichelt, beobachtet und gehofft, dass er aufwachen und ihr auf irgendeine Weise zeigen würde, dass mit ihm alles in Ordnung war. Und tatsächlich hatte er eben gerade die Augen geöffnet, und sie hatte das Gefühl gehabt, einen Funken Erkennen in seinen Augen gesehen zu haben, einen Hinweis darauf, dass er wusste, wo er war. Aber es hatte nicht gereicht, um ihr Unbehagen zu verscheuchen. Mit dem Jungen stimmte etwas nicht.
Sie strich ihm ein letztes Mal übers Haar und stand auf. »Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Wie war die Gruppe?«
Jane zuckte die Achseln. »Ganz gut.«
Evie tätschelte ihren Arm. »Mach dir keine Sorgen. Du und Erik, ihr schafft das schon.«
»Das hat Dana in der Gruppe eben auch gesagt.« Die Frau lächelte tapfer, und es tat Evie im Herzen weh. »Es ist so schwer zu glauben, dass Leute einfach nett zu einem sind. Ich meine, nach …«
»Ich weiß. Es ging mir auch so, als ich damals herkam. Man fragt sich, wann die erste Flasche fliegt, aber es passiert nicht. Du hast hier nichts zu befürchten. Hör mal, wenn du willst, dass ich nach Erik sehe, damit du dir einmal eine Auszeit nehmen kannst, dann sag’s mir einfach.«
»Du bist sehr nett«, murmelte Jane und senkte den Blick. »Danke.«
Evie zögerte, legte der Frau dann aber die Arme um die Schultern und drückte sie kurz und fest. »Mach ich gerne.«
Durch gesenkte Lider beobachtete Sue, wie die vernarbte Frau auf nackten Füßen das Zimmer verließ. Diese verdammten Schlampen mussten unbedingt lernen, sich um ihren eigenen Kram zu kümmern. Dupinsky mit dem ewigen Gerede, Caroline mit ihren Regeln und jetzt auch noch Scarface, die sich viel zu sehr für den Jungen interessierte. Sue schloss die Tür, trat zum Bett, packte den Jungen an den Schultern und schüttelte ihn heftig. Einen kurzen Augenblick lang schlug er die Augen auf. Aber da war kein Funke, kein Trotz. Nur Dumpfheit. Das war genau das, was sie in seinen Augen sehen wollte.
Sie hatte Dupinsky gegenüber nun mehrmals angedeutet, dass der Junge geistig nicht wirklich auf der Höhe war. Erik war Epileptiker und Autist. Niemand schien ihr Urteil anzuzweifeln, und wenn doch … Teufel, sie war nur eine arme, dumme Frau vom Land, die vor ihrem Mann geflohen war. Und diese Geschichte klang ausgesprochen wahr.
Sie ließ das Kind los, und es sank zurück aufs Bett. Noch immer keine Reaktion. Gut. Einen Moment lang stand sie da, starrte ihn an und wartete auf einen Hauch von Mitgefühl. Mitgefühl für einen kleinen Jungen, den sie vor Tagen aus seinem Bett gezerrt hatte und den sie permanent unter Drogen setzte.
Sie nickte, als sich das Mitgefühl nicht einstellte. Sie hatte ein wenig Sorge gehabt, dass all diese Gefühlsduselei hier irgendwie auf sie abfärben würde. Aber das durfte nicht geschehen. Sie stand kurz davor, ihren Racheplan auszuführen, und nichts durfte sie davon abbringen. Das Kind war der Köder.
Das Geräusch von Stimmen in der Gasse hinter dem Haus ließ sie aufmerken. Caroline und Dana stiegen in verschiedene Autos. Sue wusste, dass Dupinsky ein Date hatte und Caroline entschlossen war, ihre Freundin angemessen auszustaffieren. Dann würde Dupinsky ihre Verabredung treffen und Caroline ebenfalls. Nur wusste sie noch nichts von Fred. Und wenn sie ihm begegnete, war es zu spät.
Chicago
Montag, 2. August, 18.15 Uhr
F luchend sprang Ethan aus der Dusche. Das Telefon in seinem Hotelzimmer klingelte. »Ja!«
»Ich habe dich auf dem Handy angerufen, aber du bist nicht drangegangen«, beschwerte sich Clay.
Ethan rubbelte sich mit dem Handtuch trocken. »Ich stand unter der Dusche. Was ist?«
»Keine E-Mails, aber ich habe etwas über Stan herausgefunden. Ich habe mir seine Bücher angesehen.«
»Was für Bücher? Stan hat nie Bücher geführt. Das war immer Randis Aufgabe.«
»Tja, wohl schon länger nicht mehr. Stan hat einen Buchhalter
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