Der Raecher
Tor öffnete sich, und ein stämmiger Mann in Freizeithosen und Sea-Island-Baumwollhemd trat heraus. Das Hemd hing lose über den Hosenbund - aus gutem Grund. Es verbarg die Neun-Millimeter-Glock. McBride kannte ihn aus der Akte: Kulac, der Einzige, den der serbische Gangster aus Belgrad mitgebracht hatte, sein Bodyguard fürs Leben.
Der Mann näherte sich der Beifahrertür und winkte. Nach zwei Jahren in der Fremde sprach er noch immer nur Serbokroatisch.
» Muchas gracias. Adios«, sagte McBride zu dem Polizisten, der ihn hergebracht hatte. Der Mann nickte, begierig darauf, in die Hauptstadt zurückzukehren.
Hinter dem mächtigen Holztor, das aus Balken so dick wie Eisenbahnschwellen bestand und automatisch betrieben wurde, stand ein Tisch. Zuerst wurde McBride gründlich nach versteckten Waffen durchsucht, dann seine Reisetasche. Ein Butler mit gestärktem weißem Kragen kam von der oberen Terrasse herunter und wartete, bis die Kontrolle beendet war.
Kulac grunzte zufrieden, und geführt von dem Butler, der die Tasche trug, stiegen die drei die Stufen hinauf. Zum ersten Mal konnte McBride das Haus genauer in Augenschein nehmen.
Es war dreistöckig und von einem gepflegten Rasen umgeben. Zwei Peonen in weißen Kitteln waren in einiger Entfernung mit Gartenarbeit beschäftigt. Das Haus erinnerte an die luxuriöseren Villen, die man von der französischen Côte d’Azur und der italienischen Riviera kennt. Alle Zimmer in den Obergeschossen hatte einen Balkon und Stahljalousien, die jetzt wegen der Hitze heruntergelassen waren.
Die mit Steinplatten belegte Terrasse, auf die sie gelangten, war ein bis zwei Meter höher als die Unterkante des Holztors, durch das sie eingetreten waren, aber noch niedriger als die Schutzmauer. Die Mauer versperrte zwar nicht die Sicht auf die Berge, über die McBride gekommen war, aber kein in der näheren Umgebung versteckter Heckenschütze konnte über sie hinweg auf jemanden schießen, der sich auf der Terrasse befand.
In die Terrasse eingelassen war ein schimmernder blauer Swimmingpool. Daneben stand auf steinernen Füßen ein großer Tisch aus weißem Carrara-Marmor, der fürs Mittagessen gedeckt war. Silber und Kristall funkelten.
Etwas abseits gab es einen zweiten Tisch mit bequemen Stühlen,
darauf ein Eiskühler mit einer Flasche Dom Perignon. Der Butler bedeutete McBride, Platz zu nehmen. Der Bodyguard blieb stehen und behielt ihn im Auge. Aus dem schattigen Innern der Villa trat ein Mann in weißen Hosen und seidenem cremefarbenem Safarihemd.
McBride erkannte den Mann kaum wieder, der einst Zoran Zilić gewesen war, der Geldeintreiber aus dem Belgrader Zemun-Distrikt, Drahtzieher bei Dutzenden kriminellen Geschäften in Deutschland und Schweden, Mörder im Bosnienkrieg, Mädchen-, Drogen- und Waffenhändler in Belgrad, Veruntreuer jugoslawischer Staatsgelder und schließlich flüchtiger Gesetzesbrecher.
Das neue Gesicht hatte mit dem in der CIA-Akte wenig Ähnlichkeit. In jenem Frühjahr hatten die Schweizer Chirurgen gute Arbeit geleistet. Die slawische Blässe war einer tropischen Sonnenbräune gewichen, und nur die feinen weißen Narben wollten partout nicht dunkel werden.
Doch McBride hatte sich sagen lassen, dass Ohren ein ebenso eindeutiges Unterscheidungsmerkmal eines jeden Menschen waren wie Fingerabdrücke und sich, sofern sie nicht operiert wurden, niemals veränderten.
Zilićs Ohren waren dieselben, und als sie einander die Hand gaben, fielen ihm die nussbraunen, wilden Tieraugen auf.
Zilić nahm am Marmortisch Platz und deutete mit dem Kopf auf den anderen freien Stuhl. McBride setzte sich. Zilić wechselte mit dem Leibwächter ein paar Worte auf Serbokroatisch, worauf dieser davonschlenderte, um an einem anderen Ort zu essen.
Eine sehr junge und hübsche Einheimische in einer blauen Dienstmädchenuniform füllte zwei Champagnerflöten. Zilić brachte keinen Toast aus. Er musterte die bernsteinfarbene Flüssigkeit, dann leerte er sie in einem Zug.
»Wer ist dieser Mann?«, fragte er in gutem, wenn auch nicht tadellosem Englisch.
»Das wissen wir nicht genau. Er ist ein Solist. Arbeitet im Verborgenen. Wir kennen nur den Decknamen, den er sich gegeben hat.«
»Und wie lautet der?«
»Avenger.«
Der Serbe sann über das Wort nach, dann zuckte er mit den Schultern. Zwei weitere Mädchen begannen, das Essen aufzutragen. Es gab Wachteleikanapees und Spargel mit zerlassener Butter.
»Alles hier auf dem Anwesen produziert?«, fragte McBride.
Zilić
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