Der Raecher
Einkehr zu halten.
Im Sommer 1996, als der Bosnienkrieg zu Ende war, kam Milan Rajak zu ausgedehnten Exerzitien nach Slanci, zog Tomaten und Gurken, meditierte und betete. Er träumte nicht mehr so oft.
Nach einem Monat forderte Igumen Vasilije ihn freundlich auf, die Beichte abzulegen, und er tat es im Schein einer Kerze neben dem Altar. Unter den Augen des Mannes aus Nazareth erzählte er dem Abt mit flüsternder Stimme, was er getan hatte.
Der Igumen bekreuzigte sich inbrünstig und betete für die arme Seele des Jungen in der Jauchegrube und für den Reumütigen neben ihm. Er forderte Milan eindringlich auf, zu den Behörden zu gehen und die Verantwortlichen anzuzeigen.
Doch Miloševićs Macht war ungebrochen und Milans Angst vor Zoran Zilić unvermindert groß. Die »Behörden« würden keinen Finger rühren, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Und sollte der Mörder seine Drohung wahr machen und sich rächen, würde kein Hahn danach krähen. Also schwieg er weiter.
Die Schmerzen begannen im Winter 2000. Er spürte, dass sie bei jeder Bewegung stärker wurden. Nach zwei Monaten fragte er seinen Vater um Rat, doch der vermutete einen vorübergehenden Infekt. Gleichwohl vereinbarte er für seinen Sohn einen Termin im Belgrader Allgemeinkrankenhaus, dem Klinicki Centar.
Belgrad war seit jeher stolz darauf, dass seine Kliniken höchsten europäischen Ansprüchen genügten, und das Allgemeinkrankenhaus gehörte zu den besten. Fachärzte für Proktologie, Urologie und Onkologie führten an Milan Rajak eine Reihe von Untersuchungen durch. Der Professor der dritten Fachrichtung war es schließlich, der ihn zu sich bestellte.
»Wie ich höre, wollen Sie Mönch werden?«, fragte er.
»Ja.«
»Dann glauben Sie an Gott?«
»Ja.«
»Manchmal wünschte ich, ich könnte das auch. Leider kann ich es nicht. Aber Ihr Glaube wird nun auf eine harte Probe gestellt. Ich habe keine gute Nachricht für Sie.«
»Sprechen Sie, bitte.«
»Sie haben kolorektalen Krebs, wie wir es nennen.«
»Ist er operabel?«
»Bedaure, nein.«
»Ist er heilbar? Mit Chemotherapie?«
»Zu spät. Tut mir Leid, aufrichtig Leid.«
Der junge Mann starrte aus dem Fenster. Er war soeben zum Tod verurteilt worden.
»Wie viel Zeit bleibt mir noch, Professor?«
»Die Frage wird immer gestellt, und sie ist nie zu beantworten. Schonung, Pflege, eine spezielle Diät und etwas Bestrahlung vorausgesetzt … ein Jahr. Vielleicht weniger, vielleicht mehr. Aber nicht viel.«
Das war im März 2001. Milan Rajak kehrte nach Slanci zurück und erzählte alles dem Abt. Der ältere Mann weinte um den Jungen, der inzwischen wie ein Sohn für ihn geworden war.
Am 1. April verhaftete die Belgrader Polizei Slobodan Milošević. Zoran Zilić war fort. Milans Vater hatte seine guten Beziehungen zur Polizei genutzt und in Erfahrung gebracht, dass der erfolgreichste und mächtigste Kriminelle Jugoslawiens ein Jahr zuvor einfach verschwunden war und jetzt irgendwo im Ausland lebte, Aufenthaltsort unbekannt. Sein Einfluss hatte sich mit ihm verflüchtigt.
Am 2. April 2001 suchte Milan Rajak aus seinen Papieren eine alte Visitenkarte heraus. Er nahm ein Blatt Papier und schrieb auf Englisch einen Brief an eine Londoner Adresse. Das Wichtigste stand gleich im ersten Satz.
»Ich habe meine Meinung geändert. Ich bin bereit auszusagen.«
Der Spürhund erhielt den Brief drei Tage später. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden und nach einem kurzen Telefonat mit Steven Edmond in Windsor, Ontario, kehrte er nach Belgrad zurück.
Die Aussage wurde im Beisein eines vereidigten Übersetzers sowie eines Notars in englischer Sprache aufgenommen, unterzeichnet und beglaubigt:
»Damals, 1995, glaubten junge Serben noch das, was man ihnen sagte, und ich bildete keine Ausnahme. Heute mag offenkundig sein, welche schrecklichen Dinge in Kroatien und Bosnien und später im Kosovo geschahen, uns aber wurde gesagt, die Opfer seien in diesen ehemaligen Landesteilen von der Außenwelt abgeschnittene serbische Gemeinden - und ich glaubte dies. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass unser Militär Massenmorde an alten Menschen, Frauen und Kindern verübte. So etwas taten nur Kroaten und Bosniaken, hieß es. Serbische Soldaten hätten nur die Aufgabe, serbische Minderheiten zu schützen und zu retten.
Als mir im April 1995 ein Jura-Kommilitone erzählte, dass sein Bruder und einige andere nach Bosnien gehen wollten, um die Serben dort zu beschützen, und noch einen Funker
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