Der raffinierte Mr. Scratch: Roman (German Edition)
erlangen, wie der Teufel wusste.
Hiroshima und Auschwitz hätten ihm Hinweis genug sein müssen. Tausend Dinge hätten ihm Hinweis sein müssen, doch sie hatten ihn nicht so gepackt wie jener eine, durchgemangelte Mensch in seinem erbärmlichen Verlies es schließlich getan hatte.
Der Teufel hatte die Menschheit aufgezogen wie ein eigenes Kind. Wie jeder Vater hatte er geglaubt, die Fehler seiner Kinder wären nur der Jugend geschuldet und würden sich auswachsen. Ähnlich wie wenn man ein Kind hat, das wie alle Kinder nicht perfekt ist, auch wenn es hin und wieder vielversprechend scheint und intelligent wirkt und Hoffnungen in einem weckt. Manchmal bringt es einen regelrecht zum Staunen. Wenn es gemein war gegenüber anderen Kindern, hat man versucht, es eines Besseren zu belehren. Wenn es Fliegen die Flügel ausriss, hat man versucht, darüber hinwegzusehen. Es wird sich auswachsen, hat man geglaubt.
Doch was tut man an dem Tag, an dem man herausfindet, dass es andere Leute umgebracht und ihre Leichen im Gemüsegarten vergraben hat?
An dem man herausfindet, dass es kein stolzer Rebell ist, sondern nur ein weiteres krankes Arschloch?
Der Teufel barst aus dem Gefängnis hervor wie ein Dämon in einem Comicbuch.
***
Er war Knochen und Flammen auf einem fliegenden Motorrad und jagte wie ein Meteor nach Osten, nach New York, wo er neben Memorys Bett brennend zum Stehen kam. Er versperrte die Tür, schaltete die Kameras ab und ließ Wiederholungen im Koma-Channel laufen.
»Wach auf!«, befahl er mit brechender Stimme.
Sie lag reglos.
Er brannte sich nackt. Er fror sich steif.
Er vermisste sie, wollte sie, sehnte sich nach ihr. Er war ganz krank vor Panik und wusste nicht mehr, was er denken oder tun sollte.
Er nahm sie in die Arme, wiegte sie, und sein Schmerz und seine Frustration und seine Wut kochten in ihm. Doch es war kein Trost. Seine Zunge entrollte sich wie die eines Drachen. Er kämpfte dagegen an, doch die Maschinerie der Lust entfachte die Hoffnung, dass Liebe, Verlangen und Begehren Memory zurückbringen konnten, so wie es bei Arden gewesen war. Die Einsamkeit befeuerte die Maschinerie zusätzlich, bis er nichts mehr tun konnte, außer vorsichtig sein. Beinahe hätte er geschrien, doch er ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten, als er langsam, behutsam vordrang, wartete, bis sie sich um ihn herum ein wenig löste, bevor er zustieß, einmal, zweimal, und mit lautem Brüllen kam.
Er löste sich von ihr, erzitternd, erschauernd wie eine Puppe auf den Hacken, den Kopf auf der Brust, die Haare hängend, die Hörner glänzend.
Memory rührte sich nicht.
Der Teufel kauerte da, wartete, bis sein Atem sich wieder beruhigt hatte, bis er sich schließlich eingestehen konnte, dass sie wohl nicht aufwachen würde. Behutsam strich er ihr Haar glatt, machte ihr Bett, küsste sie zum Abschied.
Er flüchtete vor der Morgendämmerung nach Westen und stahl sich zurück in seine Zelle.
Er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Von sich, von dem, was er getan hatte. Von den Menschen. Von irgendwas.
Also dachte er nicht mehr. Er saß einfach nur da und stank nach Rauch.
***
Die Zeit verging wie ein langer, trockener Furz.
Als vierzehn Monate um waren, kamen sie ihn holen und setzten ihn vor die Tür.
Wie jeder andere Gefangene auch sah er älter aus, in mancher Weise kleiner, heimgesucht.
Als sie ihm sein Mobiltelefon gaben, zeigte es neuntausend unbeantwortete Anrufe, hauptsächlich vom Fernsehstudio.
Er wählte die Nummer.
»Hallo?«, sagte das Telefon.
»John Scratch«, sagte John Scratch.
Und das Telefon war plötzlich ganz aufgeregt und erzählte ihm, sie hätten beschlossen, genau an der Stelle mit Think it over weiterzumachen, an der sie aufgehört hatten – minus der Anstiftung zum Kapitalverbrechen.
Er wusste, er hätte »Nein!« sagen müssen.
Und genau in diesem Moment, an der Bushaltestelle vor dem Gefängnis, begriff der Teufel die eine Sache, die er die ganze Zeit hatte verdrängen wollen.
Die Menschen waren letzten Endes nichts Besonderes. Sie waren Tiere, wie alle anderen Tiere auch. Menschlichkeit war nichts weiter als eine Fiktion, erschaffen von ihm selbst, damit er glauben konnte, er hätte eine Chance, Arden zurückzuholen. Die Evolution hatte bisher noch gar keine echten Menschen hervorgebracht – nichts als Frankensteinmonster, die lediglich aussahen wie Menschen.
Vielleicht hatte er es schon vor dem Gefängnis gewusst. Doch er hatte stets die Hoffnung
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