Der raffinierte Mr. Scratch: Roman (German Edition)

Titel: Der raffinierte Mr. Scratch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Poore

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Proud Henry zu schnarchen anfing.
    Eines Tages stieß Nita – sie war zehn Jahre alt – einen langen Atemzug aus, als sie aus ihrer Trance oder ihrem Schlaf erwachte, und wollte sich erheben und gehen. Sie kippte seitwärts um. Ein langes, muskulöses Bein unter ihr war plötzlich weich wie Pudding geworden.
    Zachary zupfte eine Note auf seinem Bass. Es hörte sich wie eine Zither an.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er.
    »Das Bein ist eingeschlafen«, antwortete sie. Beim zweiten Versuch klappte es.
    Am gleichen Abend renkte sich Proud Henry die Schulter aus, als er versuchte, das Shotgun-Problem mit einem Salto rückwärts vom Pferd zu lösen. Er verbrachte vier Tage mit dem Arm in einer Schlinge und Unmengen Schmerzmitteln.
    Zachary fragte sich später immer wieder, ob irgendetwas anders gelaufen wäre, hätte jemand bemerkt, dass Nitas Bein immer mehr Mühe zu haben schien, wach zu bleiben.
    Eines Tages fiel sie hin und kam nicht mehr hoch. Da merkten es alle.
    »Es will einfach nicht!«, fauchte sie, schlug auf ihr Bein und weinte.
    Also waren Ärzte angesagt, und die Ärzte in jenen Tagen erkannten augenblicklich, was das Problem von Nitas Bein war. In jenen Tagen bekamen sie jede Menge Beine und Kinder wie Nita zu sehen. Nita hatte Kinderlähmung.
    »Die hygienischen Bedingungen im Reservat sind nicht so, wie sie sein sollten«, bemerkte ihr Arzt skeptisch.
    »Wir leben nicht im Reservat«, erklärte Proud Henry. »Wir besitzen eine Movie-Ranch außerhalb von Sedona.«
    Der Arzt musterte ihn. »Riders of the Purple Sage! Sie waren der Indianer, der von diesem Wassertank geschossen wurde!«
    ***
    Filmleute verfügen über ungewöhnliche Fähigkeiten. Als die Nachricht von Proud Henrys kranker Tochter über dieses und jenes Telefon nach draußen drang, ließen sie diesen Fähigkeiten freien Lauf.
    Ein gewisser Filmstar organisierte experimentelle Medikamente vom Schwarzmarkt und ließ sie zur Ranch liefern. Schwierig zu erlangende, starke, nicht ganz ungefährliche Medizin. Sie half nichts.
    Die Polio-Viren in Nitas Körper waren ein ganzes Stück aggressiver, als sie sein sollten. Die meisten Kinder überlebten mit einem nutzlos gewordenen, verkrüppelten Bein und mussten für den Rest ihres Lebens Schienen benutzen. Nita verlor die Kontrolle über beide Beine. Tag für Tag schrumpfte sie weiter, bis selbst ihre Schultern schmal wurden. Sie sah nicht mehr aus wie eine Kriegerin, nicht einmal mehr wie ein junges Mädchen. Dann breitete sich die Taubheit in ihrem Unterleib aus, sodass Mutter, die ständig Dinge Bringende, sich darauf spezialisierte, Nita auf die Toilette zu bringen. Nita und Mutter wurden zu einer winzigen Zweier-Gesellschaft.
    ***
    Der Arzt, der Proud Henry aus Riders of the Purple Sage erkannt hatte, besorgte ihnen eine schicke, hochmoderne Eiserne Lunge, die bei ihnen zu Hause im Handelsposten aufgestellt wurde. Er sorgte dafür, dass die richtige Verdrahtung vorhanden war und die richtigen Steckdosen installiert wurden.
    Die Ankunft der Eisernen Lunge, die nach Zacharys Meinung aussah wie eine überdimensionale Rolle Geldscheine, nahm ihnen jegliche Hoffnung. Menschen, die in die Eiserne Lunge kamen, wurden nicht mehr gesund.
    Zachary spielte den Bass für sie. Nita flüsterte, sie habe Schwierigkeiten, ohne sein Spiel einzuschlafen.
    Sie schlief mehr und mehr.
    »Ich meditiere «, beharrte sie.
    »Was siehst du?«, fragte Zachary.
    Sie zuckte die Achseln. Ihre Schultern und die gesamte Geste waren hinter der Halsdichtung nicht zu erkennen.
    »Ich glaube, ich sehe überhaupt nichts. Ich fühle mich einfach ruhiger, wenn ich damit fertig bin.«
    »Ich auch. Aber ich sehe auch Dinge. Adler. Wasser. Zwei Sonnen am selben Himmel.«
    »Ich möchte draußen sein, wenn ich sterbe«, sagte sie.
    Zachary wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Über solche Dinge sprach sie eigentlich nur mit Mutter.
    ***
    Eines Tages erwachte Proud Henry, nachdem er vor dem Zwölf-Zoll-Fernseher weggedöst war, mit einem Geistesblitz.
    »Seil!«, krähte er und erschreckte seinen Vater, der in einem Sessel neben ihm geschlummert hatte.
    »Kissen!«, rief er und rannte aus dem Handelsposten nach draußen, wobei er Nita in ihrer Eisernen Lunge weckte. Er verschwand im Werkzeugschuppen hinter dem Haus. Sie hörten ihn draußen laut pfeifend herumhämmern. Es war ein guter Tag, als er eine neue Lösung für das Shotgun-Problem gefunden hatte.
    Wenn Nita einen guten Tag hatte, konnte sie eine Stunde oder länger