Der raffinierte Mr. Scratch: Roman (German Edition)
weil du mit den Konsequenzen leben musst – und genau aus diesem Grund sagen alte Leute genau das, was sie wollen. Deshalb heiraten Menschen und bekommen Kinder. Wir müssen uns ersetzen.«
Daughterry nahm einen Schluck Kaffee.
»Es ist das, was uns traurig oder glücklich oder wütend macht. Weil alles so verdammt wunderbar ist – und gleichzeitig schrecklich, weil es uns wieder genommen wird. Und das wiederum ist ziemlich beängstigend. Das Wissen, dass wir eines Tages sterben müssen, liegt wie ein Schatten über unserer Existenz. Wie seltsam gelassen, wie unverwüstlich wir trotzdem sind! Sterblich zu sein bedeutet für uns, Bettgenossen voller Angst und Schrecken zu sein.«
»Du würdest staunen«, entgegnete der Teufel, »wie unglaublich langweilig mit der Zeit alles werden kann. Du würdest verrückt, wenn du viel länger als hundert Jahre leben müsstest, geschweige denn tausend. Ein ganzes Menschenleben ist wie ein Tag. Die Nacht kommt, du wirst müde. Du schläfst. Du willst schlafen.«
»Das ist genau der Unsinn, den man aus dem Mund eines Unsterblichen erwartet! Es ändert sich einiges, wenn man Angst haben muss.«
Der Teufel zerkaute Maisbrot und Bohnen, trank Kaffee und schluckte alles herunter.
»Du meinst, ich wäre mitfühlender, wenn ich sterblich wäre?«
»Ich bin sicher , dass du mitfühlender wärst. Aber das ist nur ein Teil des Problems. Du würdest uns Menschen besser verstehen .«
Der Teufel blickte Daughterry von der Seite an.
»Du glaubst, es gibt Dinge, die du besser verstehst als ich?«
»Jepp.«
»Beispielsweise?«
»Wie es ist, klein zu sein. Oder krank. Oder nicht so schlau, wie du immer von dir geglaubt hast.«
»Du meinst, ich finde das nützlich?«
Daughterry nahm einen Stock aus dem Feuer und benutzte das glühende Ende, um sich eine Zigarre anzuzünden.
»Jepp. Du hast ein paar großartige Vorstellungen, wie die Leute leben sollten. Du würdest besser verstehen, warum wir es nicht so einfach finden, die ganze Zeit großartige Wesen zu sein, wenn du Angst vor dem Tod haben müsstest. Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, wenn man weiß, dass man in einer Woche vielleicht schon nicht mehr da ist – und mit Sicherheit in fünfzig Jahren nicht mehr.«
Daughterry beugte sich vor.
»Vieles von dem, was wir tun, John Scratch, tun wir für Leute, die erst geboren werden, wenn wir nicht mehr da sind.«
»Ich tue alles mit dem Gedanken an die Zukunft im Hinterkopf«, erwiderte der Teufel.
»Du arbeitest für die Zukunft, weil du darin leben musst. Würdest du irgendwann sterben, würden sich viele Dinge für dich ändern. Einfache Sterbliche, mein Freund, verstehen Dinge, die du nicht mal im Ansatz begreifen kannst.«
Der Teufel knackte mit den Knöcheln. Trotz der Wärme des Sommerabends spürte er ein Frösteln. Plötzlich schien mehr durch die Nacht zu spuken als der Geist von Robert E. Lee. Die Reisenden schwiegen.
Dann sagte Daughterry: »Ich wette mit dir, du würdest es nicht einmal für drei Tage ertragen, sterblich zu sein, ohne dabei halb verrückt zu werden.«
»Was meinst du damit, ›sterblich zu sein‹?«
Daughterry blickte ihn herausfordernd an. Du weißt genau, was ich meine , besagte sein Blick.
»Du meinst, ich soll meine Unsterblichkeit für drei Tage ablegen?«
»Genau.«
»Und du wettest, dass ich damit nicht so gut zurechtkomme wie ein gewöhnlicher menschlicher Lumpensammler oder Zimmermann oder König?«
»Jawohl.«
»Drei Tage. Ich könnte alles machen in diesen drei Tagen.«
»Das heißt, es wäre möglich? Du könntest deine Unsterblichkeit für drei Tage ablegen?«
»Und sie wegsperren? Sicher. Offen gestanden, ich setze sogar noch eins drauf.«
»Wie das?«
Der Teufel erhob sich, holte eine Bierflasche aus dem fahrenden Heim, öffnete sie mit seinen scharfen Zähnen und leerte sie in einem Zug. Dann machte er sich an seinem Hosenstall zu schaffen, brachte einen von blauen Adern durchzogenen, kräftigen Penis zum Vorschein, urinierte in die Flasche, verkorkte sie wieder und reichte sie mitsamt dem schwach leuchtenden Inhalt an den Fotografen.
»Du passt darauf auf«, sagte er, während er seine Hose zuknöpfte.
Daughterrys Augen quollen fast aus den Höhlen.
Er wickelte die Flasche in einen Kokon aus Handtüchern und schmutziger Wäsche und verstaute sie sicher in seiner Dunkelkammer unter der Werkbank.
Als er wieder nach draußen kam, schien es ihm, als wäre der Teufel kleiner als zuvor.
Er hatte immer den Eindruck
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