Der raffinierte Mr. Scratch: Roman (German Edition)
ihm reisen wollte.
An manchen Tagen war es mehr, als er ertragen zu können glaubte. Daughterry, der Talkmaster, redete ununterbrochen und erinnerte ihn stets daran, dass der Krieg der Sklaverei beziehungsweise ihrer Abschaffung wegen geführt wurde.
»Und was hat das alles damit zu tun, dass ich der Teufel bin?«, fragte er den Fotografen, während er das Stativ abbaute. »Ich war in vielen Schlachten. Ich war in der Wüste von Assyrien. Mein Schwert war schwer vom Blut.«
»Für dich ist das was anderes. Schließlich kannst du nicht sterben.«
»Hey, es ist nicht meine Schuld, dass ich unsterblich bin!«, protestierte der Teufel.
Sie kletterten auf den Kutschbock vor dem Miniaturhaus auf Rädern. Der Teufel nahm die Zügel und flüsterte den Pferden zu, welchen Weg sie nehmen sollten.
»Ich sagte, es ist nicht meine Schuld …«
»Ich hab’s gehört«, antwortete Daughterry und lehnte sich bequem zurück, um ein Nickerchen zu halten. Er tauschte seinen Zylinder gegen einen Strohhut, den er sich übers Gesicht legte. Für die nächsten beiden Wochen war das Thema damit erledigt.
Gut, dass der Teufel die Pferde als Gesellschaft hatte. Sie unterhielten sich über Äpfel. Fern, das ältere der beiden Tiere, mochte sie frisch vom Baum. Millie, das jüngere, mochte sie lieber, wenn sie einige Zeit auf dem Boden gelegen hatten und bereits fermentiert waren. Der Teufel vermittelte einen Kompromiss zwischen beiden, indem er für Cider stimmte.
***
Sie folgten dem Küstenverlauf der Chesapeake Bay nach Norden und versuchten zu erraten, wo der Krieg als Nächstes ausbrechen würde.
Wenn der Wahnsinn nur lange genug andauerte, entwickelte man einen Sinn dafür. Eines Abends in Pennsylvania – sie hatten die Chesapeake Bay hinter sich gelassen – hielten sie früher als gewöhnlich an, weil sie ein merkwürdiges Gerücht aufgeschnappt hatten. Je nachdem, wen man fragte, hatte sich General Lee auf die eine oder andere magische Art und Weise in den Norden transportiert. Er konnte hinter der nächsten Ecke lauern, versteckt in den Wäldern, oder sein Lager in irgendeiner Senke aufgeschlagen haben.
Ob sie es nun zugaben oder nicht, alle Yankees hatten Angst vor General Lee. Er hatte den Ruf, aus der Nacht heranzustürmen oder meilenweit entfernt von seinem vermuteten Aufenthaltsort mit seinen Truppen aus den Wäldern hervorzubrechen. Seine Streitkräfte waren in der Regel zahlenmäßig unterlegen, doch er vermochte wie Jesus, der Fische und Brotlaibe vermehrt hatte, seine tausend Männer dazu zu bringen, wie zehntausend zu kämpfen. Der Teufel fragte sich oft, ob Lee irgendwo in seinem Familienstammbaum einen gefallenen Engel hatte – sein Ruf deutete jedenfalls stark auf übernatürliche Kräfte hin.
Was auch immer General Lee sein mochte – die Vorstellung, in der Dunkelheit Pennsylvanias unversehens über konföderierte Posten zu stolpern, erweckte in Daughterry und dem Teufel gelindes Unbehagen, und so machten sie für die Nacht Rast und fuhren erst spät am nächsten Vormittag in der relativen Sicherheit des Tageslichts weiter.
Vorher bereiteten sie sich ein Frühstück aus Mais und Bohnen, inmitten von einer Armee von Grillen und eingehüllt vom schweren Duft nach gemähtem Heu und einer leichten Brise, die die Blätter in den nahen Wäldern rascheln ließ.
»Das Dumme an deiner Unsterblichkeit, ob es nun deine Schuld ist oder nicht«, nahm Daughterry die Unterhaltung vom Vorabend wieder auf, »ist die Tatsache, dass du die Menschen nicht verstehst . Wie kannst du begreifen, was die Leute bewegt, wenn du nicht verstehst, dass das Leben letztendlich zum Tod hinführt?«
Der Teufel kaute nachdenklich auf seinen Bohnen. Dann wedelte er mit seiner Gabel in einer Geste, die »Sprich weiter« bedeuten sollte.
»Es ist nicht besonders kompliziert«, fuhr Daughterry fort. »Es ist nicht mal besonders philosophisch, wenn du mich fragst. Lediglich eine harte Tatsache. Wenn du dazu verdammt bist, eines Tages zu sterben, wird das zur Hauptantriebsfeder in deinem Leben. Du tust, was du tust, weil du möchtest, dass man sich auf eine bestimmte Weise an dich erinnert, oder weil es gesund ist oder gerade nicht. Du tust, was du tust, weil dir die Zeit ausgeht. Du tust, was du tust, weil du zwanzig Jahre alt bist und weil es das ist, was Zwanzigjährige tun, oder weil du fünfzig bist und es das ist, was Fünfzigjährige tun. Es ist der Grund dafür, dass du vorsichtig bist mit dem, was du sagst, wenn du vierzig bist,
Weitere Kostenlose Bücher