Der Ramses-Code
durchzogene Stirn. Das Gesicht darunter präsentierte sich in durchgeistigter Häßlichkeit, mit überlanger Nase und kleinem, schmallippigem Mund, wobei vor allem die enormen Tränensäcke unter den leicht entzündlichen, wäßrig-blaugrauen Augen hervorstachen, während die kantige Kieferpartie, gemessen an der monumentalen Stirn, zwar breit genug, aber entschieden zu kurz geraten schien.
Einerseits fühlte sich der Orientalist geschmeichelt, daß man ihn, sozusagen von Staats wegen, mit der Aufgabe betraut hatte, den Stein zu dechiffrieren (obwohl er das natürlich erwartet hatte); andererseits war er verärgert, weil dadurch die Arbeit an seiner arabischen Grammatik stagnierte. Außerdem hatte er sich stärker dem Persischen widmen wollen, um seiner Professur für Arabisch noch eine für Iranisch, das Latein des Orients, wie er es nannte, hinzuzufügen. Nun hielt dieser Stein ihn von seinen Plänen ab, ohne daß er irgendwelche Fortschritte in der Entzifferung der beiden ägyptischen Schriften gemacht hätte.
Sacy trat an den Eichenholztisch in der Zimmermitte, aufdem die Kopie ausgerollt lag. Sie entspach mit einem reichlichen Meter Länge und knapp achtzig Zentimetern Breite genau ihrem basaltenen Vorbild. Wann immer sein ausgefüllter Gelehrtenalltag es ihm gestattete, grübelte Sacy über dem Inschriftenterzett – beharrlich zwar, aber auch mit wachsendem Widerwillen. Keine einzige der vierzehn erhaltenen Hieroglyphenlinien war vollständig, denn dem Stein fehlten an den Rändern große Stücke. Auf welche Länge sich der Hieroglyphenpassus ursprünglich belief, als die Stele noch in einem Tempel oder wo auch immer gestanden hatte, war ungewiß. Die Kursive darunter – die Gelehrten nannten sie in Anlehnung an antike Autoren wie Herodot demotische Schrift – umfaßte 32 Zeilen. Ihr linker Rand war unbeschädigt, die Seite gegenüber aber ab der Hälfte nach oben hin etwas abgeschlagen. Dem griechischen Passus wiederum, 54 Zeilen umfassend, fehlte unten rechts ein großes Stück, 26 Zeilen waren beschädigt. Alles in allem: ein Torso.
Bei der Inschrift, das ging aus dem griechischen Text hervor, handelte es sich um ein Dekret, erlassen von einer Priestersynode zu Ehren des jugendlichen Königs Ptolemaios V. Epiphanes, der Ägypten von 204 bis 180 vor Christus regierte, abgefaßt anno 196 zu Memphis am Tag seiner Krönung. Die Ptolemäer, die letzten Herrscher des alten Ägypten, stammten von Ptolemaios, einem General Alexanders des Großen, ab, der nach dem Tod des Welteroberers als Satrap das Nilland regierte, und da die Ptolemäer Griechen waren, war ein Teil der Inschrift in ihrer Sprache verfaßt. Die heiligen Zeichen wiederum stellten die Sprache der Priesterschaft dar, während der demotische Teil die landesübliche Mundart vertrat, so daß der Inhalt der Stele seinerzeit allen gebildeten Bewohnern Ägyptens verständlich gewesen sein mußte. Es war in etwa so, überlegte Sacy, als würde in einer italienischen Provinz des Hauses Habsburg ein kirchliches Dekret zu Ehren des österreichischen Kaiserhauses verfaßt und der Öffentlichkeit auf einem Denkmal präsentiert. Man würde es erstens in Latein schreiben, der alten Kirchensprache, was den Hieroglyphen entspräche; sodann in Italienisch, der Sprache des Volkes, entsprechend dem Demotischen,und zuletzt in der Sprache des Herrscherhauses, also deutsch, was mit dem Griechischen korrespondieren würde. So weit, so einleuchtend.
Der Inhalt des Dekrets bestand aus einer Abfolge von Devotionen und Lobpreisungen, gerichtet an den »Sohn der Sonne, Ptolemaios, der ewig lebt, geliebt von Ptah«. Das war die hofierende Standardtitulatur, die jede Nennung des Herrschernamens im Text begleitete, wobei Ptah eine ägyptische Obergottheit bezeichnete, welche offenkundig zu Zeiten der Ptolemäer in besonders hohem Ansehen stand und den alten Griechen, die den ägyptischen Unsterblichen Gestalten aus ihrem Olymp zuordneten, als Entsprechung des Hephaistos galt. Die Oberpriester, stand also dort zu lesen, und die Propheten und die heiligen Schreiber und die anderen Priester aus allen Tempeln des Landes hätten sich zum Fest des Empfangs der Königswürde in Memphis versammelt, um »König Ptolemaios, der ewig lebt, geliebt von Ptah, Sohn des Königs Ptolemaios und der Königin Arsinoë«, zu huldigen. Es folgte eine lange Aufzählung, womit sich der junge Herrscher die Dankbarkeit der Priesterschaft erworben hatte: mit Steuerermäßigungen beispielsweise oder
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