Der Ramses-Code
wollen doch sicher mehr.«
Jean-François holte tief Luft. »Nun gut«, begann er, »ich möchte wissen, wie die alten Ägypter gelebt und was sie geglaubt haben, wer ihre Götter waren, wie und warum sie die Pyramiden gebaut haben. Ich möchte alles von ihnen wissen! Und da sie selbst nicht mehr zu uns sprechen können, muß ich ihre Schrift lesen. Das ist mein Traum. Alles steht in diesen Zeichen, aber wir können sie nicht lesen! Es macht mich wahnsinnig! Alle Geheimnisse Ägyptens liegen vor mir, und ich finde den Schlüssel nicht!«
»Sie halten die Hieroglyphen für eine Schrift?« erkundigte sich Denon.
»Aber sicher. Wie kommen Sie auf diese Frage?«
»Nun, vielleicht sind sie ja bloß Zierde, Ornament, Wandschmuck, eine Art gemeißelter Gobelin.«
»Sie machen Scherze! Dafür ist ihre Zahl zu begrenzt …«
»Die Zahl der Motive in der europäischen Wandmalerei ist auch begrenzt.«
»Es handelt sich bei den Hieroglyphen nicht um beliebige Motive, sondern, soweit ich das anhand der wenigen Kopien, die ich besitze, einschätzen kann, um einen Kanon wiederkehrender Zeichen. Sie haben sie doch selbst im Original gesehen: Hatten Sie den Eindruck, das sei ein reines Ornament ohne Botschaft?«
»Ach wissen Sie, mein Eindruck ist belanglos. Wenn es eine reguläre Schrift war, warum sind es dann so viele Zeichen?«
»Ja, das wüßte ich auch gern. Es sind zu viele Zeichen für eine Lautschrift und zu wenige für eine Symbolschrift. Als einzige Zeugnisse, die zu einer Zeit entstanden, als es noch der Hieroglyphenschrift kundige Ägypter gab, haben wir die Schriften der antiken Autoren. Leider ist es unmöglich, ihre Angaben miteinander in Einklang zu bringen.«
Denon lächelte matt. »Das habe ich auch festgestellt. Es herrscht ja bei den Alten nicht einmal Einigkeit darüber, wieviele verschiedene Schriften es überhaupt im Phraonenreich gab.«
Jean-François war in seinem Element. »Auf dem Rosette-Stein stehen jedenfalls zwei«, erläuterte er, »und Herodot nennt zwei Schriftarten: demotikós und hieratikós , eine alltäglich-volkstümliche und eine heilig-geweihte. Clemens von Alexandrien schreibt nun aber, daß die ägyptischen Schüler zuerst ein System von Schriftzeichen erlernen, welches man das epistolografische nenne, danach das hieratische und zuletzt das hieroglyphische. Drei Schriftarten kennt auch Porphyrius: eine epistolische – also eine Art Verkehrsschrift –, eine hieroglyphische und eine symbolische. Symbolisch und hieroglyphisch sind bei ihm also verschieden. Diodor behauptet, die Hieroglyphen seien eine Bilderschrift und geben nicht durch Aneinanderfügung von Silben die gesprochene Sprache wieder, sondern durch Bilder und Symbole, die als Gedächtnisstützen dienen – das erinnert an die Malerei-Schrift der mittelamerikanischen Indianer, die aber ungleich primitiver waren als das Nilvolk, weshalb ich es nicht ganz glauben mag. Bei Plutarch wiederum steht der lakonische Satz: ›Das Quadrat von fünf ist gleich der Zahl der ägyptischen Buchstaben und der Lebensjahre des Apis.‹ Vorausgesetzt, Plutarch war bei Trost, als er das schrieb, dann besaßen die Ägypter ein Alphabet. Allerdings schreibt Plutarch nicht, welche der in Frage kommenden ägyptischen Schriftarten sich eines Alphabets bediente. Die Hieroglyphen können es nicht sein, denn bekanntlich existieren deutlich mehr als 25 davon. Dasselbe gilt für die Kursive auf dem Rosette-Stein. Kennen Sie eine einzige ägyptische Inschrift, die aus 25 wiederkehrenden Zeichen besteht? Haben Sie am Nil dergleichen gefunden?«
Denon schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar nie nachgezählt, aber es waren immer deutlich mehr; ich konnte mich beim Abzeichnen von der Mannigfaltigkeit der einzelnen Elemente überzeugen. Doch vielleicht ist Plutarchs Behauptung einfach falsch? Vielleicht gibt er nur ungeprüft wieder, was er irgendwo aufgeschnappt hat? Immerhin unkte schon Herodot, er schreibe zwar alles nieder, was die ägyptischenPriester ihm erzählten, aber es stünde dem Leser frei, diesen Erzählungen zu glauben. Was ist, wenn die Ägypter den Fremden, der sich nach der Bedeutung ihrer heiligen Zeichen erkundigte, bewußt in die Irre führen wollten?«
»Sie meinen, weil sie ihre Weisheit mit niemandem teilen wollten?«
»Das ist doch möglich«, sagte Denon. »Als das alte Ägypten mit Griechen und Römern in Berührung kam, war es eine sterbende Kultur. Vielleicht hat die Priesterschaft damals die Devise ausgegeben, alle
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