Der Ramses-Code
mit diesem bezaubernden Wesen zu plaudern? Verklärten Blicks nippte er neuerlich am Glas und ließ die geschmeidigen Tropfen, die nach Blaubeeren und Schokolade schmeckten, am Gaumen entlangperlen.
»Wie alt bis du eigentlich?« hörte er seine Tischdame fragen und sah ihren Blick prüfend auf sich gerichtet.
»Zwanzig«, erwiderte er, und diese Flunkerei kostete ihn keine Mühe. Hatte sie ihn eben geduzt?
»Und woher hast du das Geld, dir einen solch teuren Wein zu leisten? – Du hast doch Geld?«
Tatsächlich, sie duzte ihn!
»Ich habe genug Geld«, sagte er und kam sich großartig vor. »Ich stamme aus einem begüterten Haus.«
»Dann ist ja gut.«
Jean-François bestellte eine zweite Flasche Rotwein, der Braten wurde aufgetragen, und er aß mit riesigem Appetit. Er überlegte, ob er ihr irgendeine erfundene Geschichte von seiner reichen Familie erzählen sollte, verwarf diesen Gedanken aber und prahlte statt dessen damit, daß sie bald von ihm in den Zeitungen werde lesen können, denn er stünde kurz vor einer sensationellen wissenschaftlichen Entdeckung. Seltsamerweise schien sie das nicht weiter zu interessieren; jedenfalls machte sie keinerlei Anstalten, nachzufragen, worum es sich bei dieser Entdeckung handele. Statt dessen tupfte sie sich mit der Serviette die Lippen ab und bat ihren Gastgeber, der noch kräftig und vielleicht eine Spur zu unbeherrscht dem Braten zu Leibe rückte, sie kurz zu entschuldigen. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie zurückkam. Währenddessen hatte sich Jean-François satt gegessen und die zweite Flasche fast vollständig geleert.
»Wollen wir nach oben gehen?« fragte sie ihn.
»Nach oben?« entgegnete er verwirrt. »Wohin denn?«
»Na, auf ein Zimmer«, erwiderte sie, und es klang etwas unwirsch.
Er fühlte, wie das Blut in seinen Schläfen pulsierte. Angst und Lust stiegen gleichzeitig in ihm auf, und Schweiß trat auf seine Stirn. Sie wollte mit ihm auf ein Zimmer? Was dort passieren sollte, daran bestand wohl kein Zweifel. Die Frage war nur: Wollte er das? Vor allem: Konnte er das? Verwirrt griff er nach seinem Glas, stürzte den Wein hinunter. Natürlich wollte er! Er wischte sich die Lippen mit dem Ärmel ab und entschied: »Einverstanden.«
Sie sah ihn skeptisch an. Dann schellte sie nach dem Wirt und erklärte, ihr Begleiter wolle zahlen. »Monsieur, ich hoffe, Sie waren zufrieden?« erkundigte sich der Halbglatzkopf. »Ja? Das ist schön. Ich bekomme 36 Franken und sieben Sou.«
Jean-François erschrak. Das entsprach einer doppelten Monatsmiete und war fast so viel Geld, wie er insgesamt noch besaß. Er spürte ihren prüfenden Blick auf sich ruhen, und plötzlich überflutete ihn ein Gefühl von Großartigkeit. Was soll’s, dachte er gleichgültig und kam sich vor wie ein reicher Herr, ein Marquis oder Baron, der seine Dame einlädt, um danach süßen Lohn zu empfangen, und beinahe verächtlich händigte er dem schmierig grinsenden Kerl das geforderte Geld aus.
Über eine schmale Stiege gelangten sie auf einen schummrigen Flur im dritten Stockwerk. Sie schloß eine der Türen auf – offenbar hatte sie den Moment ihrer Abwesenheit genutzt, um sich vom Wirt den Schlüssel zu holen –, und beide traten in ein kleines, stockdunkles Zimmer. Augenscheinlich kannte sie sich hier aus. Ohne jedes Suchen zündete sie Kerzen an. Jean-François sah sich um. Der Raum war spärlich möbliert: Eine Kommode, auf welcher der Leuchter stand, zwei Stühle, ein kleiner Waschtisch und ein Bett mit abgenutzter roter Decke darauf bildeten das Inventar. Dem Bett gegenüber hing ein mannshoher, teils aber bereits erblindeter Spiegel.
Sie warf das Tuch ab, das sie im Flur um Busen und Hals geschlungen hatte, öffnete den Haarknoten am Hinterkopf, so daß sich die rote Pracht ihrer Locken über die Schultern ergoß, und bei dieser Bewegung rutschte ihr, wie zufällig, das Kleid von der linken Schulter. Berauscht und wie schlafwandelnd trat der Student hinter sie, zog ihren Körper an sich und küßte sie auf Hals und Nacken.
»Halt, mein Lieber, nicht so eilig«, flüsterte sie und entwand sich seinen Händen. »Erst bezahlen!«
»Bezahlen?« fragte er überrascht. »Wofür denn?«
Sie sah ihn an, und ihr Blick, der eben noch verführerisch geleuchtet hatte, wurde kalt. »Glaubst du, ich mache es umsonst, nur weil du dich vor meinen Augen mit dem teuersten Rotwein betrinkst?«
Er begann zu begreifen. »Du bist … Sie sind eine …« – er wollte »Dirne« sagen, aber
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