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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Bund ungehechelten Werges aussah, hereinstreckte. Quilp hatte nur einen leichten Schlaf und fuhr daher augenblicklich auf.
    »Es will jemand zu Euch«, sagte der Knabe.
    »Wer?«
    »Ich weiß nicht.«
    »So frage!« entgegnete Quilp, indem er die vorerwähnte Latte ergriff und sie mit solcher Gewandtheit nach dem Jungen warf, daß dieser guttat, sich unsichtbar zu machen, ehe sie die Stelle erreichte, an der er gestanden hatte. »Willst du fragen, du Galgenstrick?«
    Da es dem Jungen nicht sonderlich darum zu tun war, sich wieder in den Bereich solcher Wurfgeschosse zu wagen, so sandte er klüglicherweise den Anlaß der Unterbrechung hinein, der sich jetzt an der Tür zeigte.
    »Was, Nelly?« rief Quilp.
    »Ja«, sagte die Kleine und zögerte, ob sie eintreten oder sich zurückziehen sollte; denn der eben erwachte Zwerg war mit seinen verwirrten Haaren, die nach allen Richtungen hinausstanden, und dem gelben Schnupftuch, das er über den Kopf gelegt hatte, wahrhaft fürchterlich anzuschauen. »Nur ich bins, Sir.«
    »So komm herein!« versetzte Quilp, ohne den Schreibtisch zu verlassen. »Komm herein! Halt! Sieh einmal in den Hof hinaus und gib acht, ob dort nicht ein Junge auf dem Kopf steht!«
    »Nein, Sir«, entgegnete Nell, »er steht auf seinen Füßen.«
    »Hast du auch recht gesehen?« fragte Quilp. »Schon gut. So komm herein und schließe die Tür! Was bringst du mir für einen Auftrag, Nelly?«
    Das Kind überreichte ihm einen Brief, und Herr Quilp, ohne seine Lage weiter zu ändern, als daß er sich etwas mehr auf die Seite drehte und sein Kinn auf die Hand stützte, schickte sich an, den Inhalt durchzulesen.

Sechstes Kapitel
    Lautlos und schüchtern stand die kleine Nell beiseite und erhob die Augen zu dem Gesicht des Herrn Quilp, als er den Brief durchlas; ihre Blicke zeigten übrigens deutlich, daß sie eine große Neigung verspürte, über das ungeschickte Äußere und die groteske Haltung des kleinen Mannes zu lachen, obgleich sie ihm nicht traute und sich vor ihm fürchtete. Es ließ sich aber auch an dem Kinde ein schmerzliches Bangen wahrnehmen und das ängstliche Gefühl seiner Macht, von der sie zu erwarten schien, daß sie die Antwort ungünstig oder betrübend gestalten könnte. Natürlich standen diese Gefühle in einem strengen Widerstreit mit dem ursprünglichen Eindruck, den der Gnom auf sie gemacht hatte, und zügelten ihn weit wirksamer, als es ihr wohl aus eigenen Kräften möglich gewesen wäre.
    Daß Herr Quilp selbst erstaunt, und zwar ungeheuer erstaunt war über den Inhalt des Briefes, stand deutlich auf seinem Gesicht. Noch ehe er über die ersten zwei oder drei Zeilen weggekommen war, begann er die Augen weit aufzureißen und die Stirn in schreckliche Falten zu legen; die zunächstfolgenden paar Linien veranlaßten ihn, sich auf eine ungemein häßliche Weise den Kopf zu kratzen, und als er bei dem Schlusse anlangte, bekundete er sein Erstaunen und seinen Unwillen durch ein langes, unheimliches Pfeifen. Nachdem er das Papier gefaltet und neben sich niedergelegt hatte, nagte er mit ungemeiner Gefräßigkeit an den Nägeln seiner zehn Finger; dann nahm er es hastig wieder auf und las es noch einmal. Die Wiederholung war allem Anschein nach ebenso unbefriedigend wie die erste Einsichtnahme und versetzte ihn in ein tiefes Nachsinnen, aus dem er nur zu einem neuen Angriff auf seine Nägel und zu einem langen Glotzen auf das Kind er
wachte, das mit zur Erde gesenkten Blicken seines Gegenauftrages harrte.
    »Holla da!« rief er endlich mit einer Stimme und so plötzlich, daß das Kind zusammenfuhr, als ob ein Gewehr neben seinem Ohre abgefeuert worden wäre. »Nelly!«
    »Ja, Sir.«
    »Weißt du, was in diesem Briefe steht, Nell?«
    »Nein, Sir!«
    »Ists auch gewiß, ganz gewiß, ganz sicher, bei deiner Seele?«
    »Ganz gewiß, Sir.«
    »Kannst du sagen, ich will auf der Stelle sterben, wenn ich es weiß – wie?« sagte der Zwerg.
    »In der Tat, ich weiß es nicht«, versetzte das Kind.
    »Gut!« murmelte Quilp, als er ihren ernsten Blick bemerkte. »Ich glaube dirs. Hm! Bereits fort? In vierundzwanzig Stunden fort? Was zum Teufel hat er damit angefangen? Dahinter steckt ein Geheimnis!«
    Diese Betrachtung veranlaßte ein neues Kratzen am Kopf und ein abermaliges Beißen an den Nägeln. Während er so beschäftigt war, milderten sich seine Züge allmählich zu dem, was bei ihm ein heiteres Lächeln war, bei jedem andern aber ein gräßliches Schmerzensgrinsen hätte genannt werden

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