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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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bezahlen, den neuen Postillion wecken mußte und hin und her gelaufen war, bis man die Pferde angeschirrt hatte, da wurde ihm so heiß, daß ihm das Blut in den Fingerspitzen wie scharfe Nadeln prickelte. – Und dann hatte er das Gefühl, als ob nur ein Grad Kälte weniger der Reise die Hälfte ihrer Lust und ihres Glanzes nehmen würde, und seelenfroh sprang er wieder hinauf, und während er zu der lustigen Musik der dahinrollenden Räder sang und die Stadtleute ihren warmen Betten überließ, verfolgten sie ihren Weg auf der einsamen Straße weiter.
    Mittlerweile vertrieben sich die beiden Herren im Innern des Wagens, die keine Lust zum Schlafen hatten, die Zeit durch Plaudern. Da sie beide gespannt und besorgt waren, drehte sich natürlich ihr Gespräch um den Gegenstand ihres Ausflugs, um die Art und Weise, wie dieser zustande gekommen war, und um die Hoffnungen und Befürchtungen, die sie hinsichtlich seines Erfolges empfanden. Der ersteren hegten sie viele, der letzten nur wenige – vielleicht gar keine, jene unerklärliche Unruhe ausgenommen, die unzertrennlich ist von plötzlich geweckter Hoffnung und sich in die Länge ziehender Erwartung.
    Nach einer der Pausen ihres Gesprächs und als die Nacht bereits halb um war, wandte sich der ledige Herr, der allmählich immer schweigsamer und gedankenvoller geworden war, an seinen Gefährten und fragte unvermittelt:
    »Können Sie gut zuhören?«
    »Wie die meisten andern Menschen, glaube ich«, versetzte Herr Garland lächelnd; »namentlich wenn mich etwas interessiert. Und wenn dies nicht der Fall ist, so kann ich wenigstens versuchen, interessiert zu scheinen. Warum fragen Sie mich?«
    »Es schwebt mir eine kleine Erzählung auf den Lippen«, entgegnete sein Freund, »und ich will Sie damit belästigen. Sie ist sehr kurz.«
    Ohne auf eine Antwort zu warten, legte er die Hand auf den Ärmel des alten Herrn und fuhr folgendermaßen fort:
    »Es waren einmal zwei Brüder, die einander zärtlich liebten. Es bestand ein Altersunterschied zwischen ihnen von ungefähr zwölf Jahren. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie nicht unbewußt einander aus diesem Grunde um so inniger liebten. Trotz des bedeutenden Unterschieds der Jahre wurden sie jedoch nur zu bald Nebenbuhler. Bei beiden hatte sich die tiefste und innigste Liebe ein und demselben Gegenstande zugewendet.
    Der Jüngere – er hatte Grund, empfindlich und auf der Hut zu sein – fand dies zuerst heraus. Ich will Ihnen nicht mitteilen, wie unglücklich er sich fühlte, welchen Seelenschmerz er litt und welche heftigen Kämpfe in seinem Innern tobten. Er war ein kränkliches Kind gewesen. Sein Bruder, der sich der besten Gesundheit und Kraft erfreute, hatte sich geduldig und rücksichtsvoll den Belustigungen, die er liebte, so manchen Tag entzogen, um am Bett des Kranken zu sitzen und ihm Märchen zu erzählen, bis sein blasses Gesicht von ungewöhnlicher Glut leuchtete; um ihn auf den Armen in den Garten zu tragen, in dem er den sinnigen armen Knaben behütete, der in den schönen Sommertag hinausschaute und die ganze Natur gesund sah, nur sich selbst nicht; kurz, um ihm stets ein treuer und zärtlicher Wächter zu sein. Ich will nicht alles
aufzählen, was er tat, um die Liebe des armen, schwachen Wesens zu gewinnen, sonst würde meine Geschichte kein Ende nehmen. Aber als die Zeit der Prüfung kam, war das Herz des jüngeren Bruders noch voll von der Erinnerung an entschwundene Tage. Der Himmel kräftigte ihn, die Opfer einer sorglosen Jugend durch eins zu bezahlen, das der reife Mann brachte. Er ließ seinen Bruder glücklich sein! Die Wahrheit kam nie über seine Lippen; er verließ die Heimat und hoffte, in der Fremde zu sterben.
    Der ältere Bruder heiratete sie. Bald aber kehrte sie in das himmlische Vaterhaus ein und hinterließ ihm eine unmündige Tochter.
    Wenn Sie die Gemäldegalerie irgendeiner alten Familie gesehen haben, so werden Sie sich erinnern, wie dasselbe Gesicht, dieselbe Gestalt – oft die schönste und die zarteste von allen – in verschiedenen Generationen auftaucht und wie Sie das nämliche holde Mädchen durch eine lange Reihe von Gemälden verfolgen konnten – nie alt werdend oder sich verändernd, der gute Engel des Geschlechts, der im Glück und Unglück bei ihnen steht, all ihre Vergehen sühnt. –
    In dieser Tochter lebte die Mutter wieder auf. Sie können sich leicht vorstellen, mit welcher Innigkeit er, der die Gattin verloren, da er sie kaum gewonnen hatte, an diesem

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