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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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ihr Kämmerchen, wo sie so oft in nächtlichem Gebete gekniet – betend um die Zeit, deren Morgenrot sie jetzt aufdämmern zu sehen glaubte –, das Kämmerchen, wo sie so friedlich geschlafen und so schöne Träume geträumt hatte – es war hart, sich nicht noch einmal darin umsehen zu können und es ohne einen freundlichen Blick, ohne eine dankbare Träne verlassen zu müssen. Es waren noch einige Kleinigkeiten dort, arme, wertlose Dinge, die sie wohl gern hätte mitnehmen mögen – aber das war unmöglich.
    Dies erinnerte sie an ihren Vogel, ihren armen Vogel, der noch dort hing. Sie weinte bitterlich um den Verlust dieses kleinen Geschöpfes – bis ihr der Gedanke kam – sie wußte selbst nicht, wie oder warum sie darauf verfiel –, daß er wohl
auf irgendeine Weise in Kits Hände fallen dürfte, der ihn um ihretwillen pflegen oder vielleicht glauben würde, sie habe ihn in der Hoffnung zurückgelassen, daß er als ein Bote ihres Dankes in seinen Besitz kommen werde. Sie beruhigte und tröstete sich mit diesem Gedanken und legte sich mit einem leichteren Herzen zu Bette.
    Aus vielen Träumen, in welchen sie durch lichte und sonnige Orte streifte, durch die aber stets irgendein unbestimmtes, ihr unerreichbares Ziel huschte, erwachte sie, um zu finden, daß es noch Nacht war und daß die Sterne hell am Firmament funkelten. Endlich begann der Morgen aufzudämmern, und die Sterne wurden blaß und trübe. Sobald sie sich davon überzeugt hatte, stand sie auf und kleidete sich an für ihre Wanderschaft.
    Der alte Mann schlief noch, und da sie ihn nicht stören wollte, überließ sie ihn seinem Schlummer, bis die Sonne aufging. Es drängte ihn, das Haus ohne den mindesten Zeitverlust zu verlassen, und so war er bald reisefertig.
    Das Kind nahm ihn bei der Hand, und sie gingen mit leichten und vorsichtigen Schritten die Treppe hinunter, zitternd, sooft ein Bett knarrte, und oft innehaltend, um zu horchen. Der alte Mann hatte eine Art Reisesack vergessen, der die leichte Bürde barg, welche er zu tragen hatte, und die wenigen Schritte zurück, die ihn holen sollten, schienen ihm eine endlose Zögerung.
    Endlich gelangten sie in den Flur des Erdgeschosses, wo das Schnarchen des Herrn Quilp und seines Rechtsfreundes weit schrecklicher als das Gebrüll von Löwen in ihre Ohren klang. Es war schwer, die verrosteten Riegel ohne Geräusch zurückzuschieben; als dies aber geschehen war, fanden sie, daß die Tür abgeschlossen und – was noch schlimmer – der Schlüssel abgezogen war. Jetzt erinnerte sich das Kind zum erstenmal,
von einer der Wärterinnen gehört zu haben, daß Quilp des Nachts stets beide Haustüren zuschließe und die Schlüssel auf dem Tische seines Schlafzimmers liegen habe.
    Nicht ohne Furcht und Zittern streifte Nell ihre Schuhe ab, schlüpfte durch das Raritätenmagazin, wo Herr Braß – das häßlichste Stück Ware im ganzen Kabinett – auf einer Matratze lag, und trat in ihr Kämmerchen.
    Hier blieb sie einige Augenblicke stehen – wie festgebannt vor Entsetzen über den Anblick des Herrn Quilp, der so weit aus dem Bette heraushing, daß er fast auf dem Kopfe zu stehen schien, während er, sei es wegen der Unbequemlichkeit dieser Lage oder infolge seiner lieblichen Gewohnheiten, mit weit offenem Munde schnarchte und gurgelte, wobei das Weiße – oder vielmehr das schmutzige Gelb – seiner Augen deutlich sichtbar war. Sie hatte indes weder Zeit noch Lust, nachzuforschen, ob ihm etwas fehlte, sondern setzte sich, nachdem sie sich hastig im Zimmer umgesehen, in den Besitz des Schlüssels, eilte an dem hingestreckten Herrn Braß vorbei und langte wieder wohlbehalten bei dem alten Manne an. Sie öffneten jetzt ohne Geräusch die Tür, und als sie sich auf der Straße befanden, blieben sie stehen.
    »Welchen Weg?« fragte das Kind.
    Der alte Mann sah unentschlossen und hilflos zuerst auf sie, dann nach rechts und links, dann wieder auf sie und schüttelte den Kopf. Es war augenscheinlich, daß die Kleine hinfort seine Führerin und Leiterin sein mußte. Sie fühlte dies, aber sie hatte keine Zweifel und Bedenken, sondern legte ihre Hand in die seinige und führte ihn sanft weiter.
    Es war der Morgen eines Junitags – ein tiefblauer Himmel, von keiner Wolke getrübt und prunkend im glänzenden Lichte. Auf der Straße waren nur wenige Menschen zu sehen; die Häuser und Läden hatten sich noch nicht geöffnet, und die
reine Morgenluft wehte wie der Hauch von Engeln über die schlafende Stadt.
    Der

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