Der Raritätenladen
entgegnete der alte Mann.
»Sprechen Sie nicht so!« sagte das Kind. »Ich bitte Sie, tun Sie's nicht! Reden wir lieber von etwas anderm.«
»Ja, ja, das wollen wir«, erwiderte er. »Und es soll das sein, wovon wir vor langer Zeit gesprochen haben – vor vielen Monaten – sind es Monate oder Wochen oder Tage? Wie lange ist es, Nell?«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte das Kind.
»Es kam mir heute wieder ins Gedächtnis – es beschlich mich eben wieder, da wir hier zusammensitzen. Gott segne dich dafür, Nell!«
»Wofür, lieber Großvater?«
»Für das, was du sagtest, als wir zu Bettlern wurden, Nell. Wir wollen leise sprechen. Pst! Wenn die da unten unser Vorhaben wüßten, so würden sie schreien, ich sei toll, und würden dich von mir nehmen. Wir wollen keinen Tag mehr hierbleiben. Wir wollen fort – weit fort von hier.«
»Ja, wir wollen gehen«, sagte das Kind ernst. »Wir wollen diesen Ort verlassen und nie mehr zurückkehren oder an ihn denken. Lieber barfuß durch die Welt wandern als länger hier weilen!«
»Ja, das wollen wir«, entgegnete der alte Mann. »Wir wollen zu Fuß durch Felder und Wälder ziehen, an den Ufern der Flüsse hinwandern und uns in Gottes Obhut geben an den Orten, wo er wohnt. Es ist weit besser, des Nachts sich unter jenem freien Himmel niederzulegen und seine Pracht zu bewundern, als in diesen engen Räumen zu ruhen, die stets voll von Sorge und bedrückenden Träumen sind. Du und ich, Nell, wir beide können noch froh und glücklich sein und diese Zeit vergessen lernen, als wäre sie nie gewesen.«
»Wir wollen glücklich sein!« rief das Kind. »Hier können wir es nimmer.«
»Nein, wir können es hier nie mehr – nie wieder – da hast du recht«, erwiderte der alte Mann. »Wir wollen uns morgen früh fortstehlen – in aller Frühe und so leise, daß man uns weder sieht noch hört – und wollen keine Spur zurücklassen, auf der man uns folgen könnte. Arme Nell, deine Wangen sind blaß und deine Augen trübe vom Wachen und Weinen – vom Wachen und Weinen um mich – ich weiß es – um mich; aber du wirst wieder wohl und auch fröhlich werden, wenn wir weit weg sind. Morgen früh, meine Liebe, wenden wir dieser Stätte der Sorge unsern Rücken zu und sind so frei und so glücklich wie die Vögel des Waldes.«
Und dann faltete der alte Mann seine Hände über dem Haupte der Kleinen und sagte in kurzen, abgebrochenen Worten, daß sie von nun an in der Welt umherwandern und nie mehr einander verlassen wollten, bis der Tod sie trennte.
Das Herz des Kindes schlug hoch vor Hoffnung und Zuversicht. Es kam ihr kein Gedanke an Hunger oder Kälte, Durst oder Leiden. Sie sah in allem nur eine Rückkehr der einfachen Freuden, die sie vordem genossen, eine Erlösung aus der düsteren Einsamkeit, in der sie gelebt, eine Flucht vor den herzlosen Leuten, von denen sie in der letzten Zeit ihrer Prüfung umgeben gewesen, die Wiederherstellung der Gesundheit und des Friedens ihres Großvaters und ein Leben voll ruhigen Glückes. Die heitere Sonne, der liebliche Strom, grünende Auen und heitere Sommertage schwebten ihr lockend vor, und auch nicht ein dunkler Flecken entstellte das lichtvolle Gemälde.
Der alte Mann hatte einige Stunden gesund in seinem Bette geschlafen, und sie war noch immer emsig mit Vorbereitungen zu ihrer Flucht beschäftigt. Da gab es einige Kleidungsstücke
für sich und ihn hervorzusuchen, alte Gewänder, wie sie gerade paßten, zum Anziehen hinzulegen, und außerdem hielt sie auch einen Stab bereit, um seine schwachen Schritte zu stützen. Das war übrigens nicht ihr einziges Geschäft, denn sie mußte nun auch noch zum letztenmal die alten Gemächer besuchen.
Und wie ganz anders war der Abschied von ihnen, als sie jemals erwartet oder sich selbst so oft ausgemalt hatte! Wie hätte sie je daran denken können, ihnen ein triumphierendes Lebewohl zu sagen, solange die Erinnerung an die vielen Stunden, die sie in den Räumen zugebracht hatte, in ihrem schwellenden Busen emporstieg und sie die Grausamkeit eines solchen Wunsches fühlen ließ, so einsam und traurig auch viele dieser Stunden gewesen sein mochten! Sie setzte sich an das Fenster, wo sie so viele Abende – viel düsterere als den gegenwärtigen – zugebracht hatte, und jeder hoffnungsvolle oder frohe Gedanke, der an diesem Orte in ihr aufgestiegen war, trat ihr lebhaft vor die Seele, für einen Augenblick all die öden und traurigen Dinge verdrängend, die ihn manchmal begleiteten.
Und dann
Weitere Kostenlose Bücher