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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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dann einige Häuser von ziemlicher Größe mit Höfen, einige sogar mit einem Vorhause, in dem ein Portier mit seinem Weibe wohnte. Dann kam ein Schlagbaum, dann wieder Felder mit Bäumen und Heuschobern, dann ein Hügel, auf dessen Spitze der Wanderer haltmachen und – zurücksehen kann, nach dem alten Sankt-Pauls-Turme, der sich durch den Rauch kaum
den Augen zeigt, während an schönen Tagen sein Kreuz über die Wolke wegsieht und in der Sonne glänzt; wenn der Wanderer dann seine Blicke auf das Babel wirft, aus dem die Kathedrale auftaucht, und dessen Spuren hinab bis zu den äußersten Vorposten der herandringenden Armee von Ziegelsteinen und Mörtel verfolgt, die beinahe zu seinen Füßen liegen, dann mag er endlich fühlen, daß er London hinter sich gelassen hat.
    In der Nähe eines solchen Ortes und in einem lieblichen Felde ließen sich der alte Mann und seine kleine Führerin – wenn von führen die Rede sein kann, wo man nicht weiß, wohin man gehen will – nieder, um auszuruhen. Sie hatte die Vorsicht beobachtet, ihren Korb mit einigen Stückchen Fleisch und Brot zu versehen, und hier hielten sie ein frugales Frühstück.
    Die Frische des Tages, der Gesang der Vögel, die Schönheit des wallenden Grases, das tiefe Grün der Blätter, die wilden Blumen und die tausend herrlichen Düfte und Töne, die in der Luft schwammen – erhebende Genüsse für die meisten von uns, besonders aber für die Mehrzahl derer, welche im Strudel oder in der Einsamkeit großer Städte leben, wie in dem Eimer eines Menschenbrunnens –, senkten sich in ihre Herzen und machten ihre Seelen freudig. Das Kind hatte an diesem Morgen schon einmal sein kunstloses Gebet gesprochen, vielleicht mit mehr Ernst, als es je zuvor geschehen war; aber von dem Zauber des Augenblicks ergriffen, bewegte es abermals seine Lippen zu dem gleichen Spruch. Der alte Mann nahm seinen Hut ab, er hatte kein Gedächtnis für die Worte, aber er sagte sein Amen dazu und meinte, daß sie sehr gut wären. 
    Auf einem Gesimse ihrer vormaligen Heimat hatte ein alter Abdruck von ›Des Pilgers Reise‹ mit sonderbaren Bildern gelegen, über dem sie oft ganze Abende zugebracht hatte und dabei gern hätte wissen mögen, ob jedes Wort darin wahr wäre
und wo wohl die fernen Gegenden mit ihren seltsamen Namen liegen möchten. Als sie jetzt auf den verlassenen Ort zurückblickte, kam ihr eine Stelle des Buches wieder lebhaft ins Gedächtnis.
    »Lieber Großvater«, sagte sie, »es ist mir fast, als wären wir beide jener Christian und legten auf diesem Grase all jene Sorgen und Mühen, die wir mitgebracht haben, nieder, um sie nicht mehr aufzunehmen; nur daß dieser Ort viel hübscher und besser aussieht als der eigentliche – wenn nämlich der im Buche getroffen ist.«
    »Nein, wir wollen nie wieder zurückkehren, nie wieder zurückkehren«, versetzte der alte Mann, gegen die Stadt hinwinkend. »Du und ich, wir beide haben uns jetzt losgemacht, Nell. Sie sollen uns nicht mehr zurücklocken.«
    »Sind Sie müde?« fragte das Kind. »Fühlen Sie sich auch gewiß nicht unwohl von dem langen Gehen?«
    »Ich werde mich nie wieder unwohl fühlen, nun wir einmal fort sind«, war seine Antwort. »Wir müssen uns rühren, wir müssen noch weiter fort, noch viel, viel weiter fort. Wir sind noch zu nahe, um zu halten und auszuruhen, komm!«
    Auf dem Felde befand sich ein Weiher mit klarem Wasser, in dem die Kleine Hände und Gesicht wusch und ihre Füße kühlte, ehe sie weitergingen. Sie wollte, daß sich der alte Mann auf die gleiche Weise erfrischte; sie veranlaßte ihn daher, sich ins Gras zu setzen, goß Wasser mit den Händen über ihn und trocknete ihn sodann mit ihrem einfachen Kleide.
    »Ich selbst kann nichts für mich tun, meine Liebe«, sagte der Großvater, »ich weiß nicht, wie es kommt: ich konnte es einmal, aber diese Zeit ist vorbei. Verlaß mich nicht, Nell, sage mir, daß du mich nicht verlassen willst! Ich habe dich immer sehr liebgehabt, gewiß, ich hatte dich immer sehr lieb. Wenn ich auch dich noch verliere, mein Herz, dann muß ich sterben!«
    Er legte seinen Kopf auf seine Schulter und seufzte laut auf. Es gab eine Zeit, und das war noch vor ein paar Tagen, da Nelly nicht vermocht hätte, ihren Tränen zu wehren, sondern mit ihm geweint hätte. Jetzt aber beruhigte sie ihn mit sanften und zärtlichen Worten, lächelte über seinen Einfall, daß sie sich je trennen könnten, und neckte ihn deshalb mit heiteren Scherzreden. Er wurde bald wieder

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