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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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hätte, war es ihr doch immer ein Trost, wenn sie beim Näherkommen sah, daß sie sich getäuscht hatte; denn abgesehen von der Furcht vor den Folgen, die ein solcher Anblick für ihren Reisegefährten hätte haben können, fühlte sie auch, daß jetzt ein Abschied und vor allem ein Abschied von dem, der sich so treu und ergeben gegen sie erwiesen, mehr war, als sie ertragen konnte. Es war genug, stumme Dinge zurückzulassen, Gegenstände, die sowohl gegen ihre Liebe als gegen ihren Schmerz unempfindlich waren. Ein Abschied aber von ihrem einzigen zweiten Freunde gleich zu Beginn ihrer abenteuerlichen Wanderung würde ihr in der Tat das Herz gebrochen haben.
    Wie kommt es doch, daß wir ein Lebewohl im Geiste besser ertragen können als ein persönliches und daß wir wohl den Mut zu einer Trennung, nicht aber die Kraft haben, die Scheideworte auszusprechen? Am Vorabende langer Reisen oder einer Abwesenheit von vielen Jahren trennen sich Freunde, die einander zärtlich lieben, mit dem gewöhnlichen Blick und dem herkömmlichen Händedruck, indem sie noch ein allerletztes Beisammensein für den nächsten Tag verabreden, während doch jeder recht wohl weiß, daß es nur eine armselige Finte ist, um sich den Schmerz des Lebewohls zu ersparen, und daß die nochmalige Begegnung nicht stattfinden wird. Sind denn Möglichkeiten schwerer zu ertragen als die Gewißheit? Wir scheuen uns nicht, an das Sterbelager unserer Freunde zu treten, und von einem Freunde nicht ausdrücklich Abschied genommen zu haben verbittert einem oft den ganzen Rest des Lebens, obgleich man sich in aller Liebe und Zärtlichkeit von ihm getrennt hatte.
    Die Stadt prunkte im heitern Glanze des Morgens; Plätze, die die Nacht über häßlich und verdächtig anzusehen wären,
trugen jetzt ein freundliches Lächeln zur Schau, und glitzernde Sonnenstrahlen, die in den Kammerfenstern tanzten und durch die Läden und Vorhänge vor den Augen der Schläfer zitterten, gossen Licht sogar in die Träume und verscheuchten die Schatten der Nacht. Vögel, in ihren dumpfigen Käfigen dicht verhüllt, fühlten, daß es Morgen war, und flatterten unruhig in ihren kleinen Behausungen umher; helläugige Mäuschen krochen in ihre winzigen Wohnungen zurück und nestelten sich scheu zusammen; die gefleckte Hauskatze, ihrer Beute vergessend, saß blinzelnd in den Strahlen der Sonne, die durch Schlüsselloch und Türritzen drangen, und sehnte sich, einen verstohlenen Ausflug zu machen oder sich in der Sonne zu baden. Die edleren Tiere, zur Gefangenschaft verurteilt, standen regungslos hinter den Eisenstäben und blickten mit Augen, in denen noch alte Wälder leuchteten, auf zitternde Zweige und auf vereinzelte Sonnenstrahlen, die durch ein kleines Fenster huschten – nahmen dann ungeduldig den kurz bemessenen Spazierweg auf, den ihre gefangenen Füße bereits abgetreten hatten – blieben wieder stehen, um trübselig hinauszustarren. Menschen in ihren Kerkern streckten krampfhaft ihre kalten Gliedmaßen und verwünschten den Stein, den kein heiterer Himmel erwärmen konnte. Die zur Nachtzeit schlafenden Blumen öffneten ihre zarten Augen und wandten sich dem Tage zu. Das Licht, die Seele der Schöpfung, war allenthalben und alle Dinge erkannten seine Macht an.
    Die beiden Pilger drückten einander oft die Hände, wechselten ein Lächeln oder warfen einander einen freundlichen Blick zu und setzten schweigend ihren Weg fort. So hell und heiter auch der Tag war, so lag doch etwas Feierliches in den langen, verödeten Straßen, aus denen, wie aus seelenlosen Körpern, der gewohnte Ausdruck und Charakter gewichen war, ohne etwas anderes zurückzulassen als jene tote, einförmige
Ruhe, die alles ausgleicht. Es war überall so still um diese frühe Stunde, daß die wenigen blassen Leute, denen sie begegneten, ebensowenig in die Szene zu passen schienen als die dahinsiechenden Lampen, die hin und wieder noch brannten und kraftlos und fahl im vollen Sonnenglanz waren.
    Ehe sie noch sehr weit in das Labyrinth der Menschenwohnungen eingedrungen waren, das zwischen ihnen und den Vorstädten lag, begann dieser Anblick dahinzuschmelzen und Lärm und rühriges Treiben an seine Stelle zu treten. Einzelne vorbeirasselnde Karren und Kutschen unterbrachen zuerst den Zauber; dann kamen andere und wieder andere – zuletzt eine rührige Masse. Anfangs war es ein Wunder, einen Krämerladen offen zu sehen, aber bald gehörte es zu den Seltenheiten, wenn man einen geschlossen fand; dann stieg der

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