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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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mittleren, den rechten, den linken und den Wipfelzweigen aus; und noch weitere erschollen hastig aus den grauen Kirchtürmchen und den Fenstern des alten Glockenstuhles und schlossen sich dem allgemeinen Lärm an, der sich bald steigerte, bald verminderte, der anschwoll und dann wieder nachließ, jedenfalls aber unausgesetzt fortdauerte. Auch fand während dieses ganzen geräuschvollen Wettstreites ein beständiges Hin- und Herziehen, ein Niederlassen auf neue Zweige und ein unablässiger Ortswechsel statt, womit sie die frühere Ruhelosigkeit derer, die jetzt so still unter Moos und Rasen lagen, und das nutzlose Ringen, mit dem sie sich ihr Leben verkümmert hatten, zu verspotten schienen.
    Nelly erhob ihre Blicke oft zu den Bäumen, aus denen diese Töne kamen, und es dünkte ihr, der Ort werde dadurch noch ruhiger, als er durch ein vollkommenes Schweigen hätte werden können; sie ging von einem Grabe zum andern, indem sie bald haltmachte, um mit sorgfältiger Hand einen Strauch wieder aufzurichten, der sich von irgendeinem grünen Grabhügel, den er zieren half, losgelöst hatte, bald durch eins der niedrigen Gitterfenster in die Kirche hineinsah, in der wurmzerfressene Bücher auf den Betpulten lagen und die weißlich
grüne Tuchverkleidung an den Seiten der Kirchenstühle moderte und das nackte Holz dem Auge preisgab. Da waren die Bänke, auf denen die armen alten Leute saßen, abgenutzt und gelb wie sie selber; der rauhe Taufstein, an dem die Kinder ihre Namen erhielten, der einfache Altar, an dem sie in späteren Tagen niederknieten, da waren die flachen, schwarzen Gestelle, die ihre Last zum letzten Besuche in die kühle, alte, schattige Kirche trugen. Alles deutete auf langen Gebrauch und ruhigen, allmählichen Verfall; selbst das Glockenseil im Treppenhause des Turmes hatte sich zu einer Franse aufgelöst und war infolge des Alters schimmelig geworden.
    Sie betrachtete eben einen bescheidenen Grabstein, der von einem jungen dreiundzwanzigjährigen Manne erzählte, der vor fünfundzwanzig Jahren gestorben war, als sie das Geräusch näherkommender, wankender Schritte vernahm, und beim Umblicken bemerkte sie ein gebrechliches, von der Last der Jahre gebeugtes Weib, das zu demselben Grabe hinanhinkte und sie bat, ihr die Inschrift auf dem Steine vorzulesen. Nell willfahrte dieser Bitte, und die alte Frau dankte ihr, indem sie beifügte, sie habe die Worte manches lange, lange Jahr auswendig gewußt, jetzt aber könne sie sie nicht mehr sehen.
    »Wart Ihr seine Mutter?« fragte das Kind.
    »Ich war sein Weib, meine Liebe.«
    »Ihr das Weib eines jungen Mannes von dreiundzwanzig? Ach ja! Es war ja vor fünfundfünfzig Jahren.«
    »Ihr wundert Euch, daß ich so spreche?« bemerkte die alte Frau nickend; »Ihr seid aber nicht die erste. Ältere Leute als Ihr haben sich schon früher darüber gewundert. Ja, ich war sein Weib. Der Tod kann uns nicht mehr verändern, als es das Leben tut, meine Liebe.«
    »Kommt Ihr oft hierher?« fragte das Kind.
    »Im Sommer sitze ich sehr oft hier«, antwortete sie. »Früher
einmal kam ich immer hierher, um zu weinen und zu trauern, aber das ist, weiß Gott, schon lange, lange her!«
    »Ich pflücke die Gänseblümchen ab, die hier wachsen, und nehme sie mit nach Hause«, fuhr die alte Frau nach einem kurzen Schweigen fort. »Seit fünfundfünfzig Jahren ist mir keine Blume lieber als diese. Es ist eine lange Zeit, und ich bin inzwischen sehr alt geworden.«
    Indem sie nun lebhaft über das Thema zu schwatzen begann, für das sie eine Zuhörerin hatte, der es neu war, mochte diese auch nur ein Kind sein, erzählte sie, wie sie damals geweint, gestöhnt und zum Himmel gefleht hatte, daß der liebe Gott doch auch sie abrufen möchte, als das Unglück geschehen war; und wie, als sie zum erstenmal diesen Ort besuchte, ein junges Geschöpf, stark in Liebe und Schmerz, sie gehofft, ihr Herz möchte brechen, wie es auch den Anschein gehabt. Diese Prüfungsstunden gingen aber vorüber, und obgleich sie fortfuhr, mit traurigem Herzen hierherzukommen, so konnte sie doch diese Besuche ertragen, deren Qual im Laufe der Zeit immer stiller wurde, bis sie für sie eine heilige Freude und Pflicht wurden, die sie lieben gelernt hatte. Und nun, nach fünfundfünfzig Jahren, sprach sie von dem toten Manne, als ob er ihr Sohn oder Enkel gewesen wäre, fühlte mit seiner Jugend tiefes Mitleid, das aus ihrem eignen hohen Alter entsprang, und pries in begeisterten Worten seine Kraft und seine

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