Der Raritätenladen
männliche Schönheit, wenn sie sie mit ihrer eignen Schwäche und Hinfälligkeit verglich. Und doch sprach sie auch von ihm als ihrem Manne, gedachte ihrer Verbindung mit ihm als einer Zeit, in der sie nicht war wie jetzt, redete von ihrem Wiedersehen in einer andern Welt, als ob man ihn erst gestern begraben hätte, als ob sie, die sich ganz von ihrem früheren Ich löste, an das Glück des hübschen Mädchens dächte, das mit ihm gestorben zu sein schien.
Das Kind ließ sie die Blumen sammeln, die auf dem Grabe wuchsen, und entfernte sich gedankenvoll.
Der alte Mann war inzwischen aufgestanden und hatte sich angekleidet. Herr Codlin, noch immer verdammt, die rauhen Wirklichkeiten des Daseins zu betrachten, packte die Kerzenstümpfchen, die bei der gestrigen Vorstellung übriggeblieben waren, unter seine Leinwand, während sein Gefährte die Komplimente all der Müßiggänger im Stallhofe entgegennahm, die nicht imstande waren, seine Person von dem geistreichen Policinello zu trennen, hielten ihn für ebenso wichtig wie den lustigen Vogelfreien und liebten ihn nicht weniger. Sobald er sich hinreichend von seiner Popularität überzeugt hatte, kam er zum Frühstück herein, an dem sich alle beteiligten.
»Und wo geht's heute hin?« fragte der kleine Mann, sich an Nellys Seite niedersetzend.
»Das weiß ich selber noch nicht«, sagte das Kind; »wir haben noch nichts bestimmt.«
»Wir gehen zu dem Pferderennen«, sagte der kleine Mann. »Wenn Ihr den gleichen Weg zu machen und nichts gegen unsere Gesellschaft einzuwenden habt, so wollen wir miteinander gehen. Zieht Ihr's aber vor, allein zu reisen, so dürft Ihr es ruhig sagen; Ihr sollt sehen, daß wir Euch nicht belästigen wollen.«
»Wir wollen mit Euch gehen«, entgegnete der alte Mann. »Nell, mit ihnen, mit ihnen!«
Das Kind dachte einen Augenblick nach, und der Gedanke, daß sie bald betteln müßte und kaum hoffen dürfte, hierzu einen besseren Ort zu finden als einen, der durch Belustigungen und Festspiele Mengen von reichen Damen und Herren versammelt, bewog sie, die Männer dorthin zu begleiten. Sie dankte daher dem kleinen Manne für sein Anerbieten und sagte mit einem furchtsamen Blick auf dessen Freund, wenn man
gegen ihre Gesellschaft bis zur Stadt, in der das Pferderennen abgehalten würde, nichts einzuwenden habe …
»Was einzuwenden!« rief der kleine alte Mann. »Nun, seid einmal artig, Tommy, und sagt, es wäre Euch angenehm, wenn sie uns begleiteten. Ich weiß, es geht Euch da wie mir. Seid artig, Tommy!«
»Trotters«, sagte Herr Codlin, der sehr langsam sprach und sehr gierig aß, eine bei Philosophen und Misanthropen nicht ungewöhnliche Erscheinung, »Ihr seid zu freimütig.«
»Warum? Was kann es schaden?« fragte der andere.
»In diesem besondern Falle schadet es vielleicht nichts«, versetzte Herr Codlin; »aber das Prinzip ist gefährlich, und Ihr benehmt Euch zu frei, kann ich Euch sagen.«
»Gut, sollen sie mit uns gehen oder nicht?«
»Je nun, ich habe nichts dagegen«, sagte Herr Codlin; »aber hättet Ihr nicht eine Gunst daraus machen können, wie?«
Der eigentliche Name des kleinen Mannes war Harris; aber allmählich hatte sich dieser in dem weniger wohlklingenden ›Trotters‹ (Traber) mit dem erklärenden Beiwort ›Short‹ (kurz) verloren, eine Benennung, die er seinen kurzen Beinen zu verdanken hatte. Short Trotters war jedoch ein zu komplizierter Name, der nicht recht in einen freundschaftlichen Dialog passen wollte, weshalb dessen Träger von seinen näheren Bekannten entweder ›Short‹ oder ›Trotters‹ betitelt wurde, während man sich des vollen Short Trotters nur bei formellen Gesprächen oder bei besonders feierlichen Anlässen gegen ihn bediente.
Short also oder Trotters – wie der Leser lieber will – beantwortete die Zurechtweisung seines Freundes, des Herrn Thomas Codlin, mit einer Scherzrede, die darauf berechnet war, dessen Unzufriedenheit eine andere Richtung zu geben. Und indem er jetzt mit großem Behagen dem kalten Rindfleisch,
dem Tee und dem Butterbrote zusprach, verfehlte er nicht, seine Gefährten anzufeuern, daß sie ein Gleiches tun sollten. Freilich bedurfte Herr Codlin keiner solchen Überredung, da er bereits so viel zu sich genommen hatte, als ihm nur möglich war zu tragen, und der daher jetzt seinen Erdenkloß mit starkem Bier anfeuchtete. Er schlürfte es mit stummem Wohlbehagen in tiefen Zügen, ohne jedoch irgend jemand dazu einzuladen; ein Benehmen, in dem abermals seine
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