Der Raritätenladen
Stadt entkommen zu sein, und atmete wieder freier. Nach einem spärlichen Abendessen, dessen Kosten ihren kleinen Vorrat so weit zusammenschmelzen ließen, daß sie nur noch ein paar Halbpence besaß, für die sie am andern Morgen ein Frühstück erstehen konnte, legte sie sich neben dem alten Mann in einer Zeltecke zur Ruhe und schlief ein, trotz der geschäftigen Vorbereitungen, die während der ganzen Nacht um sie her getroffen wurden.
Und nun war die Zeit gekommen, da sie ihr Brot erbetteln mußten. Bald nach Sonnenaufgang stahl sie sich aus dem Zelte, streifte auf den nahen Feldern umher und pflückte einige wilde Rosen und andere bescheidene Blumen, die sie in kleine Sträuße zu binden und den Damen anzubieten gedachte, wenn diese in ihren Karossen angefahren kämen. Ihre Gedanken waren während dieser Beschäftigung nicht müßig. Als sie zurückkam und sich in eine Ecke des Zeltes an der Seite des alten Mannes niedersetzte, um ihre Blumen zu binden, während die zwei Männer in einer andern Ecke schliefen, zupfte sie ihn am Ärmel, blickte leicht nach den Schläfern hin und sagte mit leiser Stimme:
»Großvater, sehen Sie nicht auf die Leute, von denen ich spreche, und lassen Sie sich's nicht anmerken, daß ich von etwas anderm als von meiner Arbeit rede. Was haben Sie mir gesagt, ehe wir das alte Haus verließen? Sagten Sie nicht, man würde Sie für wahnsinnig erklären und uns trennen, wenn man wüßte, was wir im Schilde führten?«
Der alte Mann wandte sich mit bleichem Entsetzen auf dem Gesicht ihr zu; Nell beschwichtigte ihn jedoch durch einen Blick und bat ihn, einige Blumen zu halten, während sie diese zusammenband; dann brachte sie ihre Lippen seinem Ohr näher und sagte:
»Ich weiß, das war es, was Ihr mir gesagt habt. Sie brauchen nicht zu sprechen, lieber Großvater, ich entsinne mich noch ganz gut. Es war nicht leicht möglich, es zu vergessen, Großvater; diese Männer glauben, daß wir heimlich unsere Freunde verlassen haben, und wollen uns vor irgendeinen Herrn führen, der uns in Gewahrsam nehmen und uns zurückschicken soll. Wenn Ihre Hand so zittert, können wir sie nie loswerden; aber wenn Sie nur jetzt ruhig bleiben, wird sich's leicht ausführen lassen.«
»Aber wie?« murmelte der alte Mann, »liebe Nelly, wie? Sie werden mich in einen steinernen Kerker sperren, dunkel und kalt, und mich mit Ketten an die Mauer schließen, Nell, mich mit Peitschen geißeln und dich nie wieder zu mir lassen!«
»Sie zittern schon wieder!« sagte das Kind. »Halten Sie sich nur den ganzen Tag über dicht an mich! Kehren Sie sich nicht an diese Männer; sehen Sie nicht auf sie, sondern nur auf mich! Ich werde einen Moment ausfindig machen, in dem wir wegschleichen können. Wenn er gekommen ist, müssen Sie mir folgen, ohne sich im mindesten aufzuhalten oder auch nur ein Wort zu sprechen. Pst! Genug für jetzt.«
»Holla! Was treibst du da, meine Liebe?« begann Herr Cod
lin, indem er gähnend den Kopf in die Höhe richtete. Als er dann bemerkte, daß sein Gefährte noch schlief, fügte er ernst flüsternd hinzu: »Vergiß nicht, Codlin ist der Freund, nicht Short!«
»Ich binde einige Sträuße«, versetzte das Kind, »und will sehen, ob ich sie nicht während der drei Tage des Pferderennens verkaufen kann. Wollt Ihr nicht auch einen? Als Geschenk meine ich.«
Herr Codlin wollte aufstehen, um den Strauß in Empfang zu nehmen, aber das Kind eilte auf ihn zu und gab ihm die Blumen in die Hand. Er steckte sie mit einer Miene, die für einen Misanthropen recht wohlgefällig war, in sein Knopfloch, schielte triumphierend auf den nichtsahnenden Short und murmelte, als er sich wieder niederlegte:
»Tom Codlin ist der Freund, bei Gott!«
Mit dem Anbruch des Morgens gewannen die Zelte ein heiteres, fast glänzendes Aussehen, und lange Reihen von Wagen rollten sanft über den Rasen. Menschen, die während der ganzen Nacht in Kitteln und Ledergamaschen umhergelungert hatten, kamen in seidenen Westen und Federhüten als Gaukler oder Quacksalber zum Vorschein, versahen in prächtigen Livreen das Geschäft höflicher Diener in den Spielbuden oder traten in der Tracht stämmiger, wohlhabender Bauern auf, um andere in die Hände falscher Spieler zu liefern. Schwarzäugige Zigeunermädchen mit bunten Tüchern um den Kopf eilten umher, um wahrzusagen, und blasse, ausgemergelte Weiber mit schwindsüchtigen Gesichtern folgten den Bauchrednern und Taschenspielern auf dem Fuße, mit gierigen Augen die
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