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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schädel kantige Löcher aufwiesen, als habe man sie eingeschlagen. Als ich meinen Blick ein wenig hob, erkannte ich, daß von den Balken des mächtigen Dachstuhls weitere Totenaugen auf uns niederstarrten.
    Ich sprang vom Stuhl und trat eilig einen Schritt in die Richtung der Treppe, als könne ich dadurch dem grauenvollen Anblick entgehen.
    Von Wetterau lachte erneut, doch es war nicht das dämonische Lachen eines Mörders, das man hätte erwarten mögen. Statt dessen klang es fröhlich und ausgelassen, beinahe ein wenig schadenfroh.
    »Ich fürchte, ich habe Euch erneut erschreckt«, sagte er. »Doch habt keine Befürchtungen. Diese Schädel sind sehr viel älter als wir beide, und keiner von ihnen verlor sein Leben durch meine Hand.«
    »Woher habt Ihr sie?« fragte ich, nun wieder gefaßter.
    »Einige von ihnen stammen aus dem gefallenen Konstantinopel, die übrigen aus anderen Orten des Orients. Sie alle gehörten einst heiligen Männern, die ihr Leben allein zu Ehren Gottes lebten. Die Schädel sind christliche Reliquien, nichts weiter. Ebenso wie alles andere, das Ihr hier seht.«
    Nun betrachtete ich auch die übrigen Gegenstände, und auf den ersten Blick erschienen sie mir zum größten Teil wie Abfall. Da gab es Äste und lange Holzspäne, einen rostigen Dolch, mehrere Stoffetzen, die einst Kutten gewesen sein mochten; ich sah Haarbüschel und kleine weiße Steine, die sich bei genauerem Hinsehen als Fingerknochen entpuppten; ein schweres Buch lag da, zweifellos eine Heilige Schrift, auf deren ledernem Deckel braune Blutspritzer klebten; gleich daneben stand ein Helm mit kreuzförmigen Gesichtsschlitzen, ein Paar eiserner Handschuhe, ein verbogenes Kreuz, ein zerbrochener Wanderstab, lederne Sandalen, einige bis zur Unkenntlichkeit vergilbte Schriftstücke; hinzu kamen kleine und große Tonschalen, die meisten durch Deckel verschlossen, einige wenige geöffnet. In einer entdeckte ich drei menschliche Zähne, in einer anderen einen bräunlichen Fingernagel.
    »Alles Überreste von Heiligen«, sagte der Probst noch einmal und nahm in einem der hohen Stühle Platz.
    »Dann wart Ihr selbst im Heiligen Land?« fragte ich beeindruckt.
    Von Wetterau schüttelte bedauernd den Kopf. »Nicht wirklich, leider. Ich war dabei, als Ludwig IX. vor vierzehn Jahren zu seinem zweiten Kreuzzug aufbrach, doch unser Weg endete bereits, als wir in Tunis von Bord gingen. Ein Großteil meiner Gefährten wurde von einer Seuche dahingerafft, der schließlich auch Ludwig selbst zum Opfer fiel. Wir übrigen stachen mit wenigen Schiffen in See und fuhren zurück in die Heimat. Ein wahrlich beschämendes Kapitel der Christengeschichte.«
    »Zumindest bliebt Ihr am Leben.«
    Von Wetteraus Narbengesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Ich habe stets für die Ehre meines Schöpfers gekämpft, doch die letzte Gnade verwehrte er mir: die Zinnen Jerusalems zu stürmen und die Heidenbrut aus den Augen Gottes zu tilgen. Dafür hätte es gelohnt, ein freudloses Leben auf Erden zu opfern, denn was ist dies schon im Vergleich zur Glückseligkeit im Reich des Herrn?«
    »In der Tat«, pflichtete ich bei.
    »Mit Hilfe des Vermögens meiner Familie beschloß ich, so viele Reliquien wie nur möglich in meinen Besitz zu bringen«, fuhr der Probst fort, »denn durch ihre Bewahrung will ich Gottes Ehre mehren und um gnädigste Verzeihung flehen.«
    »Verzeihung?« fragte ich.
    »Für mein Versagen an den Gestaden des Orients. Für meine Flucht vor der Seuche, die der Herr nicht grundlos über uns brachte.«
    »Vielleicht war es sein Wille, daß Euer Feldzug dort endete.«
    Erstmals bemerkte ich verhaltene Wut in von Wetteraus Blick. »Wie kann es sein Wille sein, die Heiligen Stätten in den Händen der Ungläubigen zu belassen? Wie kann er wünschen, daß tapfere Ritter tatenlos umkehren?«
    Der Diener kam die Treppe herauf. »Eminenz, das Essen«, meldete er.
    Von Wetterau nickte gefällig, worauf der Diener und eine Magd Schüsseln und Krüge auf einer langen Tafel abstellten. Das polierte Holz der Tischplatte beschlug, wo die heißen Schalen es berührten. Der herrliche Geruch von Gebratenem wogte herüber, und in den Krügen funkelte der Wein.
    »Ihr erweist mir doch die Ehre?« fragte der Probst.
    »Habt Dank«, erwiderte ich und nickte erfreut.
    An den gegenüberliegenden Enden der Tafel nahmen wir Platz. Zwischen uns häuften sich Kostbarkeiten vom Schwein und vom Rind, vielerlei Gemüse, Obst und Brot. Außer dem Bier stand für jeden ein

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