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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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edler Probst.«
    Von Wetterau lächelte. »Nennt mich nicht edel, ich bitte Euch.«
    Ich erwiderte das Lächeln und folgte ihm dann zu seinem Gespann. Nachdem wir Platz genommen hatten und der Kutscher den Pferden die Peitsche gab, fragte ich: »Woher wußtet Ihr, daß ich es war?«
    »Oh, Ihr meint, wegen der Kapuze?« Er lachte, was meine Laune erheblich drückte. »Verzeiht noch einmal, aber ich muß Euch leider sagen, daß ein jeder in Hameln Euch kennt. Euer … nennen wir es Zusammenstoß mit den Tagelöhnern hat sich herumgesprochen, und der Vogt hat jede Feindseligkeit Euch gegenüber strengstens verboten. Es gibt demnach längst keinen Grund mehr, Euch unter einem Umhang zu verbergen.«
    Seine Worte ließen mich dastehen wie ein dummes Kind, und ich spürte in der Tat, wie mir die Röte ins Gesicht schoß; ich hoffte inständig, daß von Wetterau es im Zwielicht nicht bemerken würde. Aber so sehr mich seine Worte auch demütigten, so wenig Schuld daran traf doch den Probst. Alle Schande hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Hatte ich wirklich geglaubt, mich vor einer ganzen Stadt unter einem Stück Stoff verstecken zu können?
    »Seid nicht gekränkt«, bat er, und es klang ehrlich. »Ich hätte in Eurer Lage genauso gehandelt.«
    Das gab mir die sehnlichst erhoffte Gelegenheit, das Gespräch von mir selbst auf ihn zu lenken. Anders als in der Kirche konnte ich seine Züge nun aus der Nähe betrachten, und sie gaben mir einige Fragen auf. Vom Haaransatz bis hinab zum rechten Unterkiefer zog sich eine lange Narbe schräg durch sein Gesicht. Mehr noch als zuvor erschien er mir nun wie ein Mann des Schwertes, nicht wie einer, der den Kampf mit dem Kreuz und Gottes Worten führt.
    »Wie lange seit Ihr schon als Probst in der Stadt?« fragte ich.
    Er schien nicht überrascht. »Vor vier Jahren erhielt ich die Würde dieses Amtes. Zuvor war ich ein Ritter wie Ihr. Aber das ahntet Ihr doch längst, nicht wahr?«
    Ich nickte verhalten.
    Bevor er weitersprechen konnte, kam die Kutsche mit einem Ruck zum Stehen. Wir stiegen aus, und ich bemerkte, daß wir uns wie erwartet im Stiftsbezirk am Südrand der Stadt befanden. Vor uns wuchs die sandfarbene Stiftskirche Sankt Bonifatius in die Höhe, eine mächtigen Anlage aus Kreuzbasilika mit aufgesetztem, achteckigem Turm und einem Langhaus an der Westseite.
    Das Wohnhaus des Probstes lag gegenüber der Kirche im Norden des kleinen Platzes, welcher das Gotteshaus umgab. Es war zweigeschossig, natürlich aus Stein erbaut, ansonsten jedoch eher unauffällig, sah man von dem Wappen derer von Wetterau ab, das über dem Eingang prangte. Gleich daneben hatte man, wohl um die Familienehre nicht über jene des Herrn zu stellen, ein eisernes Kruzifix angebracht. Das Wappen zeigte gleichfalls ein Kreuz, um das sich von hinten die Schwingen eines Adlers legten.
    Rechts und links des Gebäudes reihten sich lückenlos weitere Häuser aneinander, die den Platz im Norden und Osten einfaßten, während er im Süden an die Stadtmauer und im Westen an die Uferstraße grenzte. Hier wohnten die übrigen Würdenträger des Stifts, ebenso Mönche, Bedienstete und Wachleute. Auch der Vogt mußte in einem der Häuser leben, wenngleich von hier aus nicht zu erkennen war, in welchem.
    Ein Diener von Wetteraus öffnete die Tür und ließ uns ein. Ähnlich wie das Haus des Grafen von Schwalenberg war auch dieser Bau auf ebener Erde in mehrere Kammern unterteilt. Das Obergeschoß hingegen wurde von einer einzigen großen Halle beherrscht. Hierher führte mich der Probst und bat mich, auf einem Stuhl mit hoher Lehne Platz zu nehmen. Der Diener entfachte das Kaminfeuer, und von Wetterau gab Anweisung, Speisen und Getränke aufzutragen.
    Schon beim Eintreten waren mir die unzähligen Gegenstände aufgefallen, die sich an allen vier Wänden der Halle drängten. Jetzt erst kam ich dazu, sie näher zu betrachten – und was ich sah, das raubte mir den Atem.
    Auf Brettern, die man waagerecht an den Mauern angebracht hatte, standen Schädel. Menschliche Schädel.
    Nun muß ich erwähnen, daß es nicht allein Köpfe waren, die ich dort entdeckte (tatsächlich war ihre Anzahl im Vergleich zu den übrigen Gegenständen eher gering), doch waren sie es, die mir als erstes ins Auge stachen, und ihr Anblick ist mir bis heute am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben.
    Etwa ein halbes Dutzend Totenschädel glotzte mir mit leeren Augenhöhlen entgegen, gelblich verfärbte Knochenkugeln, davon mindestens zwei, deren

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