Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
randvoller Weinkrug bereit.
    Von Wetterau prostete mir zu, und auch ich hob den Krug, als mir plötzlich Dantes Worte ins Gedächtnis schnitten, siedendheiß wie ein glühendes Schwert:
    Eine Klinge im Dunklen, ein Gift im Wein – das werden die Mittel sein, mit denen man sich Eurer entledigt.
    Und sogleich verging mir jeder Appetit.
    Von Wetterau bemerkte mein Zögern. »Stimmt etwas nicht?« fragte er.
    War das echte Besorgnis, die aus seiner Stimme sprach? Oder heuchelte er, um mich zum Trinken zu bewegen?
    Ich warf einen unauffälligen Blick in den Krug in meiner Hand. Der Wein erstrahlte in herrlichem Rot, wie frisches, glitzerndes Blut. Fast schien es mir wie ein Omen, ein böses Zeichen, um mich vor dem Schlimmsten zu bewahren.
    »Werter Ritter, wie ist Euch?« fragte von Wetterau noch einmal.
    Meine Kehle war wie zugeschnürt. Der schreckliche Verdacht betäubte mir Stimme und Verstand, als zeige das Gift schon Wirkung, bevor ich es überhaupt zu mir genommen hatte. Mir war, als bliebe die Zeit stehen. Mein Denken überschlug sich, kein klarer Gedanke entsproß dieser Wirrnis.
    »Es ist … nichts«, preßte ich schließlich hervor.
    »Nun denn, so laßt uns trinken«, sagte der Probst scheinbar unbefangen, doch der Zweifel in seinen Blicken blieb. Er setzte seinen Krug an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Dabei musterten mich seine Augen mißtrauisch über den Rand hinweg.
    Mir blieben nur wenige Herzschläge zum Handeln – und so traf ich eine Entscheidung.
    Ich hob den Krug vollends und nahm einen langen, verzweifelten Schluck. Der Wein sprudelte in meinen Mund, eiskalt die Kehle hinab, tief hinein in mein Innerstes.
    Einen Augenblick lang packte mich ein kräftiger Schwindel. Mir war, als verschleierte sich mein Blick, als dehne sich die Tafel mit einem Schlag in die Länge, als entferne sich von Wetterau von mir, ohne sich selbst zu bewegen.
    Dann war es vorbei. Alles war wieder wie zuvor.
    Der Probst lächelte unsicher. »Zu stark?« fragte er.
    Ich stellte den Krug ab, schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte ich langsam, »köstlich.«
    Von Wetteraus Mißtrauen war wie weggeblasen. Nachdem er einen Bissen von einer Hasenkeule genommen hatte, sagte er kauend: »Aber mein Essen und mein Wein sind nicht die eigentlichen Gründe, weshalb Ihr mich sprechen wolltet, nicht wahr?«
    »In der Tat«, entgegnete ich gefaßt und nahm mir gleichfalls eine Keule. »Ich bin im Auftrag des Herzogs in Hameln.«
    Der Probst lachte unvermittelt auf. »Dann habt Ihr sicherlich bereits seinen Statthalter getroffen, den Grafen von Schwalenberg.«
    »Allerdings.«
    »Wie ist Euer Eindruck?«
    »Das klingt, als wolltet Ihr die Antwort vorwegnehmen.«
    Von Wetterau wischte sich mit dem Handrücken Fett von den Lippen. »Ich verstehe. Ihr seid ein Ehrenmann und mögt nicht schlecht über einen Getreuen Eures Herrn sprechen. Sehr löblich! Doch verzeiht, wenn ich selbst meine Zunge weniger im Zaum halte.«
    Ich nickte ihm auffordernd zu.
    »Schwalenberg ist ein alter Wirrkopf«, fuhr der Probst fort. »Habt Ihr die Malereien auf seiner Hauswand bemerkt? Und das merkwürdige Fluggerät auf seinem Turm? Es ist nicht das erste dieser Art, müßt Ihr wissen. Mit zwei weiteren erlitt er bereits böse Stürze.«
    Bei diesen Worten konnte von Wetterau nicht mehr länger an sich halten und lachte schallend. »Einmal brach er sich ein Bein, beim zweiten Versuch kam er mit kleineren Blessuren davon. Zweifelsohne wird er sich eines Tages in den Tod stürzen.«
    Ich dachte bei mir, daß dies vielleicht das beste wäre.
    »Er sagte, er werde in Hameln gefangengehalten«, wandte ich vorsichtig ein.
    Von Wetteraus Gelächter verstummte, schlagartig verfinsterte sich seine Miene. »Welch ein Unsinn! Wer sollte ihn davon abhalten, von hier fortzugehen? Ich will ehrlich mit Euch sein: Niemand in Hameln legt großen Wert auf seine Anwesenheit. Wenn er die Stadt verlassen will – bitte, dann soll er gehen, lieber heute als morgen.«
    Ich nickte vorsichtig, zog es aber vor, nichts darauf zu erwidern.
    Von Wetterau griff nach einer weiteren Keule. »Doch zurück zu Eurer Mission. Ihr seid in Hameln wegen der Kinder?«
    »So ist es.« Ich war überrascht, daß er von sich aus darauf zu sprechen kam.
    Er spuckte das Fleisch, auf dem er eben noch gekaut hatte, in eine Schale und legte die Keule ab. »Hundertdreißig Jungen und Mädchen, von keinem gibt es eine Spur. Ich selbst habe die Nachforschungen geleitet, doch nach zwei Wochen gaben wir

Weitere Kostenlose Bücher