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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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auf. Niemand konnte uns sagen, was tatsächlich geschehen war. Sie verschwanden über Nacht aus den Häusern ihrer Eltern und wurden nie mehr gesehen.«
    »Mehr konntet Ihr nicht erfahren?«
    Von Wetterau schüttelte den Kopf. »Nichts von Bedeutung. Manche behaupten, sie hätten in der Nacht leises Flötenspiel gehört.«
    »Der Rattenfänger«, sagte ich leise.
    »Ein Gerücht, nicht mehr. Es gab vor einigen Monaten einen Rattenfänger hier in Hameln. Mit seiner Flöte versuchte er, die Rudel aus der Stadt zu locken, doch sicher habt Ihr selbst bemerkt, daß ihm kein Erfolg beschieden war. Man blieb ihm daher den Lohn schuldig, und er zog fluchend von dannen. Seither hat man ihn nicht mehr in dieser Gegend gesehen. Daß er zurückgekommen sei, um sich an den Bürgern Hamelns zu rächen, ist eine Mär. Ich frage Euch: Wie sollten Kinder willenlos seiner Melodie folgen, wenn nicht einmal Ratten – mindere Kreaturen! – ihr gehorchten?«
    »Ich bin froh, daß nicht jedermann dieser Wahnidee Glauben schenkt.« Wahrlich hätte meine Erleichterung kaum größer sein mögen.
    »Wenn Ihr mich fragt, steckt jemand anderes hinter dem Verschwinden der Kinder«, sagte der Probst.
    »Ihr habt also einen Verdacht?«
    »Natürlich. Und doch bin ich machtlos.«
    »So redet doch. Wen meint Ihr?«
    Von Wetterau beugte sich mit finsterer Miene vor und verschränkte beide Arme auf der Tischkante.
    »Habt Ihr jemals vom Kult der Wodan-Jünger gehört?«
    »Ich wurde Zeuge einer Hinrichtung, vor drei Tagen auf –«
    »Himmel!« fiel er mir aufgebracht ins Wort. »Ihr müßt einen schönen Eindruck von unserer Stadt haben. Ihr wart dabei, als der Scheiterhaufen zerbarst? Viele Menschen wurden durch die Tücke des Ketzers verletzt.«
    Plötzlich sprach aus seiner Stimme purer Haß. »Einer meiner besten Männer kam dabei ums Leben.«
    »Einhard«, sagte ich, schaudernd bei der Erinnerung an den geschundenen Körper des Hauptmanns.
    Erstaunen wischte den Zorn aus den Zügen des Probstes. »Auch ihn kennt Ihr? Ich muß sagen, Ihr seid ein aufmerksamer Mann.«
    Ich gab mir Mühe, durch nichts zu verraten, wie sehr mir seine Worte schmeichelten. »Ich traf ihn, kurz bevor das Unglück geschah.«
    »Nun, dann wißt Ihr, was für Bestien diese Ketzer sind. Ihnen allein ist soviel Heimtücke und Grausamkeit zuzutrauen, sich an unschuldigen Kindern zu vergreifen. Noch dazu hätten sie einen Grund.«
    »Erzählt mir mehr über sie.«
    Von Wetterau nickte grimmig. »Sie leben auf einem alten Friedhof, auf der anderen Seite des Flusses. Vielleicht zwei oder drei Dutzend Männer und Frauen. Sie haben sich von Gott, dem Allmächtigen, abgewandt, und verehren den Heidengötzen Wodan. Man munkelt von grausamen Ritualen in dunklen Grüften, von Menschenopfern und entsetzlichen Akten fleischlicher Sünde. Wir verfolgen sie, wo wir nur können, und schon mancher ist uns ins Netz gegangen, denn sie verehren die alte Esche vor den Stadttoren als Heiligtum.«
    »Einen Baum?« entfuhr es mir erstaunt.
    »Sie glauben an die Allmacht der Weltenesche, irgendeine Blasphemie ihrer heidnischen Legenden. Gelegentlich kam einer von ihnen dorthin, um sich hoch oben in den Ästen anzubinden und seinen Gott um Allwissenheit anzuflehen. Sie behaupten, Wodan habe dereinst das gleiche getan und habe so Macht über die magischen Runen erlangt. Gotteslästerliche Hirngespinste! Ich bin ganz sicher, daß sie die Kinder entführt und – Gott bewahre! – ermordet haben, als Rache für diejenigen von ihnen, deren erbärmlichen Leben wir ein Ende setzten.«
    »Wenn Ihr aber wißt, wo diese Ketzer zu finden sind und so fest an ihre Schuld glaubt, warum in Gottes Namen habt Ihr sie nicht längst gestellt?«
    Wutentbrannt schlug der Probst mit der Faust auf den Tisch. Schüsseln und Krüge erbebten. »Wenn es nur so einfach wäre! Wie Ihr sicher wißt, haben wir kein Recht – jawohl, nicht einmal die Kirche – auf einem Friedhof Gesetz zu sprechen. Jegliches Gesindel, das sich dort einnistet, genießt Immunität von allerhöchster Stelle. Von alters her gilt: Wer zwischen den Gräbern haust, lebt jenseits aller Richtbarkeit, ganz gleich ob Hure, Mörder oder Ketzer.«
    Tatsächlich sprach er die Wahrheit. Mir selbst hatte man dieses Gesetz gelehrt, und es hat bis heute, da ich diese Zeilen niederschreibe, seine Gültigkeit bewahrt.
    In der Hitze meiner Wut und Erregung faßte ich einen Entschluß: »Dann werde ich dorthingehen und sehen, ob diese Ketzer die Schuldigen sind.

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