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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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halb angezogen von dem unzüchtigen Angebot. Doch obgleich ich trotz der ersten Weihe keinem Zölibat unterlag, stand mir der Sinn nicht nach den fleischlichen Lüsten. Ich hatte wahrlich andere Sorgen als eine liebestolle Dienstmagd.
    »Nein«, brachte ich mit bebender Stimme hervor. Warum nur verunsicherte mich dieses Mädchen so sehr?
    Ich ließ sie im Dunkel vor meiner Zimmertür stehen und schob von innen eilig den Riegel vor. Meine Hände zitterten, meine Beine fühlten sich an wie taub, als hätte ich stundenlang im Sattel gesessen. Ein seltsames Prickeln hatte Besitz von meinem ganzen Körper ergriffen.
    Um meinen Geist von aller Sünde reinzuwaschen, tauchte ich das Gesicht tief in die Wasserschüssel auf dem Tisch und hielt den Atem an, so lange es nur ging. Als ich den Kopf schließlich prustend zurückriß und nach Luft schnappte, war das fremdartige Gefühl vollends gewichen. Erleichtert spürte ich, wie ich die Gewalt über meinen Körper zurückgewann.
    Somit gegen alle teuflischen Einflüsterungen gerüstet, ließ ich mich auf dem Bett nieder, brachte meine Glieder in eine angenehme Lage und griff nach Dantes Schriftrolle. Wenige Augenblicke später hatte ich die lateinischen Texte um mich auf der Decke verteilt und hielt nur noch das gute Dutzend Zeichnungen des Florentiners in Händen.
    Ihr Anblick erschrak mich zutiefst. Nie zuvor hatte ich dergleichen gesehen, denn die Bilder zeigten entsetzliche Kreaturen, augenscheinlich den Schlünden der Hölle entstiegen. Dante hatte sie mit feiner Feder und großem Talent auf Papier festgehalten, auf daß sie dem Betrachter mit tückischem Blick entgegengrinsten.
    Ich sah verschlagene Fratzen, halb Tier, halb Mensch, von vielfach gewundenen Hörnern entstellt; ich sah wölfische Lefzen, die messerscharfe Hornkämme entblößten, tödlicher als jedes Gebiß; da waren Klauen wie Dolche und grauenvolle Rüssel, die mehr dem Geschlecht eines Mannes denn tierischen Organen glichen. Aus breiten, geifernden Mäulern ragten Arme und Beine unglücklicher Opfer, blutend und zerfetzt. Bei einem Wesen schien der Mund gar das Gesicht von oben nach unten zu spalten wie ein aufgeschlagenes Buch, im Inneren verjüngt zu einem schwarzen Schlund. Da waren vielfach gewinkelte Arme wie die einer Spinne; gebuckelte, verknöcherte Rücken, manche geschuppt, andere behaart. Aus einer Grimasse erwuchs ein Geschwür, wie eine Blüte aus rohem Fleisch.
    Angeekelt zog ich noch einmal den Brief zu Rate. Und in der Tat: Dante behauptete, er habe die Zeichnungen als Kopien von Wasserspeiern und Fresken angefertigt. War es möglich, daß christliche Kirchen sich mit solchem Unrat schmückten?
    Ich warf die Blätter beiseite und nahm statt dessen eine der lateinischen Schriften zur Hand. Als ich die Worte überflog, erkannte ich, daß sie von einem italienischen Benediktinermönch stammten, einem gewissen Alberich. Er hatte die Texte offenbar vor anderthalb Jahrhunderten niedergeschrieben. Wie nicht anders zu erwarten, schilderte er seine Vision der Hölle, durch die ihn im zarten Alter von zehn Jahren der heilige Petrus und zwei Engel geleitet hatten. Demnach lag das Reich des Satans in einem Tal, wo die Verdammten unmenschliche Foltern erlitten. Frauen, die ihre Kinder nicht stillten, wurden an den Brustwarzen aufgehängt, Ehebrecherinnen an den Haaren gezogen. Ihre sündigen Leiber standen in Flammen. Männer, die vom Pfade ehelicher Tugend abgewichen waren, mußten über Leitern aus glühendem Eisen in kochende Pechkessel steigen. Selbstmörder trieben in einem See aus Blut. Bischöfe und Pfaffen, die ihre Messen von schlechten Priestern lesen ließen, schwammen in geschmolzenem Wachs. Alle Seelen zogen über einen Steg, der einen brennenden Fluß überbrückte; für die Gerechten bot der Steg genügend Platz, für die Bösen aber zog er sich zusammen, so daß sie in die Fluten fielen und bei lebendigem Leibe zerkochten.
    So und ähnlich ging es weiter, eine Marter grauenvoller als die andere.
    Auch die nächste Schrift geizte nicht mit Einzelheiten. Ein irischer Mönch berichtete von einer Hölle aus tiefen Felsentälern, ausgekleidet mit glühenden Kohlen, abgedeckt von einer Art Deckel. Sünder stürzten aus unserer Welt hinab auf diesen Deckel, zerflossen und tropften auf die heißen Kohlen. Dadurch wurden sie zu Dampf, stiegen auf, erhielten ihre alte Gestalt zurück und fielen erneut – ein qualvoller Kreislauf ohne Ende. Ein Dämon folterte die Unglücklichen mit Zangen und

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