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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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bildeten wild durchmischt eine dunkle Wand. Unter ihren Kronen herrschte grünes, wäßriges Zwielicht, und als mich die weitfächernden Äste in ihr Reich zogen, da war mir, als triebe ich unter der Oberfläche eines stillen Tümpels.
    Der alte Gottesacker lag weiter voraus, jenseits des dichten Unterholzes. Es war nicht jener, wo meine Eltern und Juliane lebendig begraben worden waren; man hatte sie in der Erde des Armenfriedhofs, nördlich der Stadt, beigesetzt, während dies dereinst die letzte Ruhestätte der Reichen und Mächtigen gewesen war. Meine Erinnerungen daran waren kaum mehr als verblaßte Bilder laubbedeckter Grabbauten.
    Der Pfad schnitt tiefer in das verwobene Geäst. Ich muß wohl eine ganze Weile steil bergauf gestiegen sein, ehe ich auf den ersten, efeuüberwucherten Eingang zu einer Gruft stieß und schlagartig bemerkte, daß ich den Friedhof längst betreten hatte. Denn als ich mich genauer umsah und auch einen langen Blick zurück auf meinen Weg warf, entdeckte ich überall, halb verborgen im Unterholz, die verfallenen Torbögen der alten Beinhäuser und Grüfte. Wie die Köpfe steinerner Fabelwesen reckten sie ihre moosbewachsenen Kuppeln und grauen Säulen aus dem Dickicht. Viele besaßen keine Türen mehr, so daß im alles beherrschenden Grün immer wieder schwarze Mäuler klafften, hinter denen unsichtbare Treppen hinab ins Innere des Berges führten. Manche Gruft mochte man an günstigen Stellen ins Erdreich gegraben haben, doch die meisten waren fraglos mit Hammer und Meißel in den Fels getrieben worden. Das, was an der Oberfläche von ihnen zu sehen war – die Bögen, Leichenkammern und überdachten Einstiege –, hatte sich der Wald längst zu eigen gemacht. Jemand, der nichts davon wußte, hätte hier entlanggehen können, ohne überhaupt zu bemerken, daß unter ihm die Gebeine Hunderter von Leichen lagen.
    Ich ging weiter, in der Hoffnung, früher oder später auf einen der Friedhofsbewohner zu stoßen. Ich hatte keine Furcht vor den Menschen, die sich hierher verkrochen hatten; ich war allein, unbewaffnet bis auf meinen Dolch und bedeutete für niemanden eine Gefahr. Zudem trug ich meine Reisekleidung, an der jeder erkennen konnte, daß ich nicht aus Hameln stammte.
    Es dauerte nicht lange, da bemerkte ich, daß sie um mich waren. Hastige Bewegungen am Rande meines Blickfeldes, leises Rascheln im Unterholz, gelegentlich ein Tierschrei, der klang, als habe ihn ein Mensch als Signal ausgestoßen – dies alles verriet mir ihre Anwesenheit. Erstmals fühlte ich ein eisiges Ziehen in meinem Rücken, ein unangenehmes Frösteln auf der Haut.
    Warum zeigten sie sich nicht? Planten sie trotz allem einen Hinterhalt?
    Vor mir öffnete sich das Labyrinth der Bäume und Bauten zu einer von Menschenhand geschaffenen Lichtung. In einem Umkreis von zehn Schritten hatte man Stämme gefällt und Buschwerk entwurzelt und so eine kreisförmige Wunde im Wald geschaffen.
    In der Mitte dieser Lichtung wuchs ein einzelner Sprößling. Er war etwa so groß wie ich selbst und würde in zwei oder drei Jahrzehnten einmal ein mächtiger Baum sein. Jetzt aber stand dort nur ein dürrer Stamm mit ein paar kümmerlichen Ästen, dünner als mein Daumen.
    Ich verharrte kurz, sah mich um, dann machte ich einen Schritt auf das Pflänzchen zu – und augenblicklich kam Leben in die Stätte der Toten!
    Mindestens drei Dutzend Gestalten schoben sich aus dem Dickicht. Die Männer hielten Knüppel, Messer, sogar Kurzschwerter in Händen, die Frauen drohten mir mit Stöcken. Während ich dastand und mein Erschrecken mit einer Miene der Gleichgültigkeit zu überspielen suchte, füllte sich die Lichtung mit den Bewohnern des Friedhofs. Es gab solche, die aussahen wie normale Bürger oder Bauern, einige sogar in edler, wenn auch schmutziger Kleidung; da waren Huren in einstmals aufreizenden Gewändern, jetzt verdreckt und zerrissen, das Haar filzig und grau; ich sah Männer mit langen Bärten und Holzkreuzen in den Händen, vielleicht gläubige Einsiedler, die hier Schutz gesucht hatten. Andere waren da, denen Mord und Raub in den Augen glänzten und denen die Furcht vorm Henker den Weg hierher gewiesen hatte. Vor allem aber sah ich Kinder – gesunde, schmutzige Kinder.
    Niemand sprach ein Wort. Stumm drängte sich die Menge zwischen mich und den jungen Baum, als sei er ein Schatz, den es zu schützen galt. Da fiel mir ein, was von Wetterau über die Esche vor Hamelns Tor gesagt hatte; ein Heiligtum sei sie den

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