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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Wodan-Jüngern, ein Abbild der göttlichen Weltenesche. Offenbar hatten die Heiden aus den Hinrichtungen ihrer Brüder gelernt und zogen sich nun auf dem Friedhof, geschützt vor den Schergen des Bischofs, eine eigene Esche heran.
    »Was willst du?« fragte eine dicke Frau in einem Kleid, das einst farbig gewesen sein mochte. Jetzt war es nur noch braun vor Dreck, und um ihr feistes Gesicht stand es nicht besser. Jedes Merkmal ihres Alters lag verborgen unter einer Maske aus Staub und Schmutz. Sie sah aus wie eine Dirne, an der sich früher die Männer erfreut haben mochten, die nun aber niedergesunken war in einen Pfuhl schlimmer als jedes Sündenhaus.
    »Ich bin ein Gesandter des Herzogs«, erklärte ich kühn.
    »Ein guter Grund, dich aufzufressen«, schrie ein Mann und fletschte bedrohlich die Zähne. Eine Vielzahl seiner Kumpanen brach in rauhes Gelächter aus.
    Die fette Hure, offenbar die Wortführerin des Haufens, brachte die Männer mit einer barschen Handbewegung zum Schweigen. Sie gehorchten ohne Murren.
    »Wenn dich der Herzog schickt, was will dann er von uns?« fragte sie.
    Eine Weile lang hatte ich erwogen, mich nicht zu erkennen zu geben und unerkannt Nachforschungen im Lager der Wodan-Jünger anzustellen. Doch schließlich war mir ein solches Vorhaben in Anbetracht der baldigen Ankunft des Herzogs als zu langwierig erschienen, so daß ich mich für den direkten, ehrlichen Weg entschlossen hatte. Mochte sein, daß sich dies nun als Fehler erwies.
    Statt einer Antwort fragte ich: »Bist du die Anführerin dieser Leute?«
    Die Frau nickte und trat einen Schritt auf mich zu. Die Bewegung ließ ihren Wanst in Wellen erbeben. »Ich bin die Priesterin dieser Gemeinschaft«, sagte sie. »Man nennt mich Liutbirg. Wie ist dein Name, Fremder?«
    »Robert von Thalstein«, entgegnete ich.
    War da plötzlich ein Funkeln in ihren Augen? Der Hauch eines Wiedererkennens? Nein, unmöglich.
    »Laß mich unter vier Augen mit dir sprechen«, fügte ich hinzu, wenngleich mir bei dem Gedanken an ein Alleinsein mit diesem Koloß von Frau übel wurde.
    Ein Mann trat neben Liutbirg und legte den Mund an ihr schmutziges Ohr. »Vielleicht hat ihn der Vogt mit dem Auftrag gesandt, dich zu töten.«
    Als Dank für die Warnung scheuchte sie den Kerl mit einem heftigen Stoß davon. »Glaubst du, auf den Gedanken sei ich nicht selbst gekommen?«
    Der Mann kuschte und drängte sich zurück in die stumme Menge.
    An mich gewandt sagte sie: »Leg deinen Dolch ab und folge mir.«
    Ich trug den Dolch unter dem Wams versteckt, Liutbirg hatte ihn unmöglich sehen können. Ich verdrängte jedoch alle unliebsamen Erklärungen, wie sie ihn trotzdem hatte entdecken können, zog die Waffe unter dem Stoff hervor und reichte sie ihr. Die selbsternannte Priesterin nahm den Dolch beinahe verächtlich entgegen und drückte ihn einem ihrer Getreuen in die Hand. »Bewahre ihn gut«, befahl sie.
    Mein Herz schlug schneller, als sie voranging, dabei jedoch einen weiten Bogen um den jungen Baum in der Mitte der Lichtung machte. Offenbar wollte sie mich nicht zu nahe an ihr Heiligtum heranlassen. Durch eine Schneise in der Menge folgte ich ihr bis zum Waldrand und dann bergauf durch dichtes Unterholz, bis wir eine Felswand erreichten, in die man Stufen gemeißelt hatte. Wir stiegen diese Treppe hinauf und gelangten schließlich auf eine Felsplattform. Bei besserem Wetter mußte man von hier aus die gesamte umliegende Landschaft überblicken können; nun allerdings verschleierte der Regen jede Sicht in weitere Fernen. Unten im Tal, gar nicht weit von hier, sah ich Hameln liegen. Von oben bot sich die Stadt als eine Art Kreis dar, deren südliche und nördliche Ränder mit Häusern bebaut waren. Dazwischen dräute der schwarze Sumpf. Hinter der Stadt erhob sich der Kopfelberg mit seinen Wäldern und Höhlen, wo Dante den Einstieg zur Hölle gesucht hatte.
    »Sprich«, verlangte Liutbirg barsch. »Was will der Herzog von uns? Ich bin sicher, er weiß, daß wir auch für ihn auf diesem Friedhof unantastbar sind.«
    »Sicher«, erwiderte ich eilig und dachte bei mir: Warte ab, bis ich weiß, was ihr den Kindern angetan habt. Dann wird euch kein Schutzheiliger vor eurer gerechten Strafe bewahren können.
    Ich wollte eben weitersprechen, als mein Blick auf einen rechteckigen Steinklotz fiel, den Liutbirg selbst mit ihrer beachtlichen Körpermasse nur halb vor mir verbergen konnte. Es handelte sich offenbar um eine Art primitiven Altar, der einige Schritte hinter

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