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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wucherten Haselsträucher und wilde Erdbeeren, dazwischen dürre Büsche mit langen, nadelspitzen Dornen und Unmengen tückischer Nesseln, deren Berührung feurige Stöße durch meine Fingerspitzen sandte. Der Grund war weich und federnd, und mir kam der unangenehme Gedanke, daß jeder meiner Schritte den Waldboden erzittern ließ, wie das Strampeln einer gefangenen Fliege im Spinnennetz. Plötzlich ahnte ich, nein, ich wußte, daß man mich erwarten würde.
    Ich spürte, wie sich erneut ein merkwürdiges, längst bekanntes Gefühl des Unwirklichen meiner bemächtigte. Hatte ich mein finsteres Empfinden am Vortag auf die Wirkung des Honigweins geschoben, mußte dessen Rausch heute längst verflogen sein. Und doch war mir, als schwebte mein Geist außerhalb seiner Hülle, als sähe ich hilflos aus der Ferne, wie sich etwas um mich zusammenzog, eine überirdische, jenseitige Bedrohung. Meine Wahrnehmung hatte sich verschoben, mir war, als erkannte ich Dinge, die ich zuvor nie bemerkt hatte – und es war kein erfreulicher Einblick. Mir schien es, als sei ich mein Leben lang, ja als sei ein jeder von einer zweiten, gänzlich verschiedenen Wirklichkeit umgeben, die sich gelegentlich öffnete und einen Blick auf ihre geisterhaften Schrecken gewährte. Es war ein seltsamer Taumel, der mich erfaßte, und mir war, als könnte ich mich kaum mehr auf den Beinen halten.
    Ich verspürte eine entsetzliche Einsamkeit, ein Gefühl jenseits schlichten Alleinseins, vielmehr eine Art kindliche Verlorenheit angesichts dieser Wälder, die sich weiter und weiter erstreckten, bis über den Gipfel hinweg, nur um sich dahinter mit einer noch ferneren, noch dunkleren Landschaft zu vereinen – ungenutzt, unbetreten, wild. Ich mußte mich setzen, einen Augenblick verschnaufen, und als ich saß, da glaubte ich, mich legen zu müssen. Ich lag da, ausgestreckt zwischen Dornenbusch und Nessel, starrte hinauf zu hohen Blätterkuppeln und spürte, wie sich mein Geist von neuem auf eine Reise begab.
    Ich begann, meinen Kopf zur Seite zu rollen, erst zur einen, dann zur anderen, und dabei blickte ich mich um, sah die mächtigen Baumstämme aus einer gänzlich anderen Sicht als sonst. Ich wunderte mich über ihre häßliche Rinde und über Wurzeln, die den Armen und Beinen verschlungener Körper glichen. Sie waren obszöne Nachahmungen menschlichen Lebens, mit überlangen Gliedern und Fingern, mit schwarzer Borkenhaut und Schlünden, die sie als Astlöcher tarnten. Da waren Fratzen wie geschnitzte Holzmasken, mit kleinen tückischen Augen. War da nicht Leben in diesen Zügen, den schnaubenden Nüstern, den bebenden Lippen? Schoben sich ihre verdrehten Schenkel nicht umeinander wie ein Nest geschmeidiger Würmer?
    Licht brach als heller Strahl durch den Laubhimmel und ergoß sich über Holz und Haut und Erde, bestrich alles mit einem prächtigen Glanz, so daß helle Funken auf den Zweigen tanzten wie die perlende Flut eines Wasserfalls.
    Später stellte ich fest, daß ich lange, viel zu lange dagelegen hatte, gebannt von den furchtbaren Wundern des Waldes, umkrallt von einem Zustand, den ich nicht begriff und der mir entsetzliche Angst einflößte. Als mich eine knochige Hand den Visionen entriß, war es düster und ein weiterer Tag erfolglos vertan – dies wenigstens war mein erster Gedanke, das peinvolle Schuldbewußtsein, dem Auftrag meines Herzogs nicht gewachsen zu sein.
    »Sieh da«, sagte eine Stimme, »der edle Herr weilt wieder unter den Lebenden.«
    Ich schaute mich um und erblickte ein Gesicht, das sich kaum von jenen unterschied, die ich eben erst an den Bäumen entdeckt zu haben glaubte. Waren jene aber Gaukelbilder meiner Sinne gewesen, so hatte dieses hier etwas geradezu Überwirkliches, denn es beugte sich über mich, und eine gewisse Besorgnis sprach aus seinen Augen. Es war nur ein alter Mann, kein Waldschrat, wie es seine dunkle, gegerbte Haut vortäuschen mochte. Wangen und Stirn waren zerfurcht wie Baumrinde, doch wurden sie nicht von Moos und Flechten, vielmehr von einem wilden Bartgestrüpp umrahmt. Die Faltenringe um seine Augen verscheuchten jeden Gedanken, er könne auch nur ein Jahr jünger als uralt sein.
    Sein dichtes Haupthaar ähnelte bedenklich dem Bart, denn es war ebenso ungepflegt. Um so überraschter war ich, als ich bemerkte, daß dagegen seine Zähne nicht nur weiß, sondern auch vollkommen ebenmäßig zwischen den ausgedörrten Lippen glänzten. Kaum einer, den ich kannte, angefangen bei den ganz jungen Knappen

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