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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Everstein. Er lachte nicht, sah einfach stur geradeaus. Mit ihm und seinen Männern zog auch die Dunkelheit davon, eine verblassende Erinnerung, wie ein Alptraum in einer Winternacht.
    ***
    Ich weiß nicht, wie ich zurück ins Gasthaus gelangte. Ob allein oder mit Hilfe eines unbekannten Samariters – ich habe es nie erfahren. Wahrscheinlich ist, daß ich die Strecke aus eigener Kraft bewältigte, mich hinauf in meine Kammer schleppte und so wie ich war – schmutzig, naß, in aller Kleidung – auf mein Lager fiel.
    Gewiß aber ist eines: Die merkwürdigen Bilder, die ich an der Brücke gesehen hatte, nahmen auch hier noch kein Ende. In meinem Geist vermischten sich Dantes Höllenvisionen mit einer scheinbaren Wirklichkeit, die, wie ich heute weiß, gleichfalls meiner Traumwelt entstammte. Erneut sah ich mich durch brennende Felsentäler wandeln, auf der Flucht vor einer gestaltlosen Gefahr, doch obgleich ich rennen wollte so schnell ich nur konnte, sah ich mich doch selbst mit träger Behäbigkeit einhergehen, als sei ich nicht länger Herr meines Körpers, meiner Sinne, meines Denkens.
    Da erwachte ich – oder glaubte zu erwachen.
    Ich fühlte mich seltsam wesenlos. Ich blickte zurück und versuchte mich zu erinnern, doch die Vergangenheit war wie eine Tür ins Nichts. Meine Erinnerung war ein kalter, leerer Raum in einem kalten, leeren Haus. Ich begriff, daß etwas mit mir geschah, doch was es war, das erkannte ich nicht. Alles schien vage, das Gestern, das Vorhin; nur das Jetzt hatte eine klar umrissene Schärfe.
    Ich setzte mich aufrecht, blickte mich um. Die Schatten hatten das Kruzifix an der Wand noch stärker mit ihren Finsterfäden umwoben, die Schenkel des Kreuzes verschmolzen mit der Dunkelheit. Ich wußte, wo ich mich befand, und ich wußte auch, was ich hier wollte, wen ich suchte. Ich stand auf und horchte.
    Da waren Laute. Mit angehaltenem Atem sah ich hinauf zur hölzernen Decke. Es klang, als liefe eine Vielzahl von Füßen über meiner Kammer umher, doch es waren leichte, keinesfalls menschliche Schritte. Jetzt schienen sie an den Wänden herabzukrabbeln, nicht nur außen an der Fassade, auch in den angrenzenden Zimmern. Als ergösse sich vom Dachstuhl eine Unzahl vielbeiniger Tiere über die Kammer. Gleichzeitig packte mich ein eisiger Luftzug, und etwas schloß sich – wie eine gewaltige Tür. Dann war es vorbei.
    Stille.
    Mein Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Ich stand immer noch da wie versteinert.
    Die Ruhe war nur von kurzer Dauer. Erneute Geräusche ließen mich zusammenfahren. Sie drangen aus dem Nebenzimmer, dort, wo bis gestern Dante gewohnt hatte. Ein Hacken und Brechen und Klatschen. Ganz so, als zerteile jemand Fleisch mit einem Beil.
    Auf Zehenspitzen schlich ich zur Tür. Ich öffnete sie und spähte furchtsam hinaus. Der Flur war derselbe wie immer, keine Spur von Tieren, die an Wänden krochen. Ich trat hinaus und überwand die wenigen Schritte bis zur Tür des Nebenraumes. Das abscheuliche Hacken war hier noch deutlicher zu hören. Mir fröstelte.
    »He«, flüsterte ich ans Holz der Tür gepreßt. »Meister Nikolaus, seid Ihr da?«
    Keine Antwort.
    Statt dessen brach das Hacken mit einem Mal ab.
    Ich wich zurück, in der Befürchtung, die Tür würde aufgerissen, jemand könne herausspringen und – Nichts tat sich. Kein Hacken, kein Atmen, keine Schritte, nur Stille.
    Ich nahm all meinen Mut zusammen, trat vor und drückte gegen die Tür. Sie schwang ohne jeglichen Widerstand nach innen. Ohne einzutreten, blickte ich in die Kammer.
    Nikolaus lag vor seinem Bett auf dem Boden, umrahmt von einer glitzernden Blutlache. Ein langes Messer stak neben ihm in den Dielen. Wo sein Kehlkopf gewesen war, klaffte eine breite, rote Öffnung. Noch immer sprudelte das Leben aus der Wunde und vereinigte sich mit der beachtlichen Pfütze am Boden. Der widerlich warme Geruch nach Eisen war überwältigend.
    Gefangen von dem grausamen Anblick machte ich einen Schritt nach vorne, dann einen zweiten. Und plötzlich begriff ich, daß wer immer den Baumeister der Mysterienbühne ermordet hatte, noch in der Kammer sein mußte! Ich wirbelte herum, bereit, mich dem Angreifer entgegenzustellen – doch da war niemand. Nicht hinter der Tür, nicht unterm Bett. Ich war das einzige lebende Wesen im Zimmer.
    Die Augen des Leichnams waren weit geöffnet und starrten zur Decke. Hatte auch er die flinken Schritte hinter den Wänden gehört? Statt einer Antwort floß aus seinem Mund ein dunkler

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