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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Euch zeigen.«
    Er ging im Dunkeln in die Knie und begann unendlich zärtlich, eine der Pflanzen auszugraben. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch als er sie schließlich triumphierend in die Höhe hielt, überkamen mich Ekel und Bewunderung zu gleichen Teilen.
    Die Blätter der Alraune endeten in einer blaß schimmernden Wurzel, die entfernt an eine Rübe erinnerte – mit dem Unterschied, daß sie sich an ihrem unteren Ende zu zwei Beinen gabelte. Die Pflanze war noch weit davon entfernt, ausgewachsen zu sein – sie maß bislang kaum eine Handspanne –, doch war schon deutlich zu erkennen, was einmal zu Schenkeln und Oberkörper werden würde. Dort, wo sich bei einem Menschen die Schultern befanden, wuchsen leichte Beulen aus dem Wurzelfleisch. Irgendwann würden hier die Arme entspringen. Nie in meinem Leben habe ich einen grauenvolleren Anblick ertragen müssen. Kein Leichnam, kein Schlachtfeld hat mich mit solchem Entsetzen erfüllt wie diese Spottgeburt, halb Pflanze, halb Kind.
    »Das … das ist Teufelswerk!« entfuhr es mir bebend. Meine Hand zuckte nach vorne, um dem Alten das widerliche Gebilde aus den Fingern zu schlagen, doch er kicherte nur, zog die Pflanze zurück und machte sich daran, sie an ihrem alten Platz einzugraben.
    Ich wich fassungslos zurück, bis ich eine Berührung in meinem Rücken spürte. Keuchend fuhr ich herum und erkannte, daß es nur die Zweige einer Tanne waren. Wie aus Eisen geschmiedet stand ich da, reglos, stumm, und sah zu, wie Hollbeck sein furchtbares Werk beendete.
    »Was hat das zu bedeuten?« fragte ich stockend, nachdem er sich erhoben hatte.
    »Später!« zischte er nur und trat an mir vorüber. Ich spürte, wie der rauhe Stoff seiner Kutte meine Hand streifte und erschrak von neuem. »Wir müssen erst fort von hier. Folgt mir – dann können wir reden.«
    Das Grauen über den Anblick der Alraunen saß mir tief in den Knochen, so daß ich beinahe froh war, eine Weile Zeit zu haben, um mich zu sammeln. Hollbeck ging voran, und wortlos liefen wir auf demselben Weg durch die Höhlen zurück, den wir zuvor gekommen waren. Dunkelheit und Kälte schienen mir plötzlich viel bedrohlicher, jedes Tropfen, jedes Rollen eines Steins ließ mich zusammenfahren. Erst als wir auf der anderen Seite des Kopfelberges wieder ins Freie traten, brach der Einsiedler sein Schweigen.
    »Habe ich Euch entsetzt, edler Ritter? Seid Ihr nicht hergekommen, um die Alraunen zu sehen? Oder habt Ihr vielleicht nicht recht an ihre Existenz glauben mögen?«
    Er ließ sich am Boden der Senke nieder. Ich selbst war viel zu erregt, um ruhig sitzen zu können. So blieb ich stehen und begann nach einer Weile, auf und ab zu gehen. Sein Blick folgte mir bei jedem Schritt. Meine Aufregung schien ihn zu erheitern.
    »Ihr macht Euch der Ketzerei schuldig«, sagte ich schließlich. »Was, denkt Ihr, soll ich nun tun?«
    »Mir einen Augenblick zuhören«, erwiderte er ruhig.
    »Ich wüßte nicht, was Ihr –«
    Unwirsch fiel er mir ins Wort. »Hört mir zu, ich bitte Euch. Und dann fällt Euer Urteil.«
    Ich schloß einen Moment lang die Augen und nickte schließlich. »So sprecht.«
    Hollbecks Stimme klang trocken wie das Herbstlaub, das unter meinen Füßen knirschte. »Ich bin ein gottesfürchtiger Mensch. Ich achte die Gesetze des Herrn seit meiner Geburt, daher erlaubt mir, Euch meine Geschichte zu erzählen. Habt keine Sorge, ich werde mich kurz fassen.« Er verstummte einige Herzschläge lang, dann fuhr er fort: »Im Jahre unseres Herren 1212 trug der Aufruf Innozenz’ III. zum Kreuzzug gegen die Heiden eine besondere Frucht. Im Rheinland und in Frankreich tauchten zwei halbwüchsige Jungen auf, Nikolaus und Stephan geheißen, die mit frommen Predigten Tausende von Kinder um sich scharten. Ihr Ziel war es, mit dieser Heerschar nach Palästina zu ziehen und das Heilige Grab mit friedlichen Mitteln zu befreien. Keine Schwerter sollten geschwungen, kein Blut vergossen werden! Unbewaffnete Kinder, in Körper und Geist von Unschuld erfüllt, sollten vollbringen, woran Könige und Kaiser gescheitert waren, allein durch die Reinheit ihrer Herzen. Anders als die Ritter der vorangegangenen Kreuzzüge würden sie nicht morden und brandschatzen, sich nicht an Frauen und Kindern versündigen. Nur ihnen, so glaubte man, konnte gelingen, woran ihre Väter und Vorfahren gescheitert waren. Denn wie hätte Gott dieser herrlichen Schar den Zugang zu den Heiligen Stätten verwehren können?«
    Der Alte strich sich mit

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