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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Klarissen. Die ehrwürdigen Schwestern versorgen mich mit jenen Dingen, auf die ich hier oben sonst verzichten müßte. Ein wenig Obst, ein paar Krüge Milch, selten einen Schluck Wein – und natürlich die neuesten Gerüchte. Eure Ankunft in Hameln hat sich innerhalb kürzester Zeit herumgesprochen, edler Ritter, und es gibt keinen in der Stadt, der nicht Eure Vergangenheit kennt.«
    Ich nickte bekümmert. »Das war zu erwarten. Es ist kein angenehmes Gefühl, wenn ein jeder alles über einen zu wissen scheint.«
    Hollbeck schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, niemand weiß alles über einen anderen. Auch Ihr habt noch ein Geheimnis, nicht wahr?«
    Die Worte trafen mich wie Insektenstiche, stechend, schmerzhaft. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«
    »Sei’s drum«, sagte er gleichgültig. »Wollt Ihr nun meine Pflanzen sehen?«
    Ich nickte, bemüht, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Dabei hatte er mich sicher längst durchschaut.
    »Folgt mir«, bat er und ging voraus zum Felsspalt.
    »Dort hinein?« fragte ich verwundert.
    Er nickte. »Hinein – und auf der anderen Seite wieder hinaus. Habt keine Furcht. Ich bin ein alter Mann, der wahrlich anderes im Sinn hat, als Euch in der Dunkelheit zu erschlagen.«
    Ich schob meine Zweifel beiseite und trat hinter ihm durch den Höhleneingang. Wir mußten uns seitlich durch die Felsen zwängen, so eng standen sie beieinander. Gleich dahinter weitete sich der Hohlraum zu einer natürlichen Kammer im Berg. Es schien sich nicht um den Wohnraum des Alten zu handeln, denn es gab weder Liegestatt noch sonstige Einrichtung. Hollbeck nahm eine brennende Fackel auf, die in einem Loch in der Wand steckte, und durchquerte die Höhle. An ihrer Rückseite trat er durch eine weitere Öffnung in eine große unterirdische Halle, an deren Grund sich Wasser zu einem kleinen See gesammelt hatte. Wir stiegen eine Geröllhalde hinab, gingen am Ufer entlang und erklommen auf der anderen Seite einige Stufen, die irgend jemand, vermutlich der Alte selbst, in den Stein gehauen hatte. Immer wieder bemerkte ich dunkle Öffnungen im Fels, wo weitere Höhlen abzweigten und tiefer hinab in die Erde führten. Dante hatte recht gehabt: Es verbarg sich tatsächlich ein dunkles Labyrinth in diesem Berg, und wer mochte wissen, wohin es führte? Vielleicht hatte er mit seiner Vermutung doch noch ins Schwarze getroffen.
    Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich den Gedanken so vertreiben, und schalt mich selbst einen Narren. Ich lenkte all meine Aufmerksamkeit auf Hollbecks Fackel – und das war bitter nötig, denn wir überquerten jetzt ein tückisches Feld aus losem Geröll. Der Alte wies mich an, gut auf jeden seiner Schritte zu achten, denn nur die Steine, auf die er seine Füße setzte, seien sicher.
    So gelangten wir schließlich an einen Ausgang, durch den mattes Tageslicht in die Höhlen fiel. Hollbeck legte die Fackel beiseite, ließ die Flamme aber brennen. Gemeinsam traten wir ins Freie. Ich stellte ohne große Überraschung fest, daß sich an der Umgebung wenig verändert hatte. Wir befanden uns noch immer im Wald, nun offenbar auf der anderen Seite des Berges, und vor uns sah ich einen finsteren Tannenhain, zwischen dessen Stämmen nichts war als tiefste Schwärze. Es wunderte mich nicht, daß der Alte ausgerechnet diesen Weg einschlug und ohne Zögern in die schattige Dunkelheit tauchte. Sie währte nur wenige Schritte, dann erreichten wir eine Stelle, die durchaus als Lichtung gelten konnte, obgleich es auch hier noch schwerfiel, weiter als zwei, drei Schritte zu sehen. Der Boden senkte sich zu einer seichten Vertiefung, aus deren Mitte eine Reihe seltsamer Pflanzen mit breiten, ovalen Blättern sprossen. Für einen, der nicht in die Geheimnisse des Aberglaubens und der Magie eingeweiht war, hätte dies ein Haufen Unkraut, bestenfalls ein Gemüsebeet sein mögen. Ich aber schauderte beim Anblick der Alraunen.
    Die Stimme des Nigromanten war plötzlich nah an meinem Ohr. In der Finsternis spürte ich seinen heißen Atem. »Es sind genau hundertdreißig«, flüsterte er, als könnte er die Pflanzen mit jedem Laut zum Leben erwecken. »Ich habe sie gesät, für jedes der verschwundenen Kinder eine Pflanze.«
    Ich starrte immer noch wie gebannt hinab in die Senke. »Ist es wahr, ich meine, daß …«
    »Daß sie zum Ebenbild eines Menschen heranwachsen?« flüsterte der Alte. »Natürlich. So sagen es die alten Schriftrollen und Zauberbücher unserer Väter. Wartet, ich will es

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