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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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der Rechten über den Bart, räusperte sich und sprach dann weiter: »Ich war eines dieser Kinder, selbst erst neun Jahre alt, aber vom Geiste des Herrn erfüllt. Ich brannte darauf, Jerusalem und all die anderen Orte kennenzulernen, von denen ich soviel gehört hatte. Ich wollte sehen, wo der Heiland gewirkt hatte, wollte das heidnische Gezücht mit der Macht der Heiligen Schrift vertreiben. So wie ich dachten auch all die andere, Tausende und Abertausende. Wir pilgerten nach Süden, überquerten unter ersten Verlusten die großen Gebirge und erreichten die Hafenstädte Frankreichs und Italiens. Männer, die sich als Mönche ausgaben, erwarteten uns und führten uns auf große Schiffe. Betend und die christlichen Lieder singend zogen wir in unser Verderben – und ahnten es nicht einmal. Stürme und Wellen forderten weitere Leben, als ein Teil der Schiffe in die Meerestiefe gerissen wurde, doch wir anderen erreichten eine Küste. Bald aber begriffen wir, daß dies keineswegs das Gestade Palästinas war. Statt dessen hatte man uns in die schwarzen Küstenstädte verfrachtet, wo ganze Heerscharen von Sklavenhändlern bereits auf ihre Ware warteten. Auf uns!«
    Atemlos lauschte ich seinen Worten. Ich hatte früher schon vom Kreuzzug der Kinder gehört, doch hatte ich stets angenommen, daß alle, die daran teilgenommen hatten, längst tot waren. Kaum einer war je zurückgekehrt, und so erstaunte es mich um so mehr, einem von ihnen hier in Hameln zu begegnen. Fast gegen meinen Willen zogen die Worte des Alten mich immer tiefer in ihren Bann.
    Hollbeck fuhr fort: »Ich will Euer Herz nicht mit allen Abscheulichkeiten trüben, die wir über uns ergehen lassen mußten. Allen wurde Gewalt angetan. Jungen wie Mädchen wurden verschleppt, die meisten ermordet. Mir drohte das gleiche Schicksal, wäre mir nicht mit einer Handvoll anderer die Flucht geglückt. Man hatte uns weiter nach Süden gebracht, ehe wir uns befreien konnten, so daß uns nur ein einziger Rückweg offenstand: Wir mußten erneut durch die kochende Wüste, ungeschützt und mit wenigen Wasservorräten, Sonne, Hitze und Räubern hilflos ausgeliefert. Ich will das weitere kurz machen. Ich war der einzige, der überlebte und nach einer Reise, die viele Jahre währte, gelangte ich schließlich ins Heilige Land. Ein christliches Kloster, errichtet auf den Trümmern einer Heidenfestung, nahm mich auf, und dort war es, wo ich die Weihen zum Priester erhielt. Ich blieb dort für zwei, drei Jahrzehnte, verabschiedete mich dann von meinen Brüdern und zog lange Zeit als Prediger durch die Städte des Orients. Erst viel später, vor etwa zwanzig Jahren, reiste ich mit einer geschlagenen Ritterschar zurück in die Heimat. Vieles habe ich auf meinem Weg durch jene fernen Länder gelernt, vieles, das man hier als Hexerei bezeichnet, als Magie und – wie Ihr selbst es nanntet – Teufelswerk. Die Kirche verstieß mich, und so suchte ich die Einsamkeit, um mich in ihr ganz dem Glauben an Gott und der Vollbringung seiner Wunder hinzugeben.«
    Nach diesen Worten versank er in brütendes Schweigen. Auch ich selbst brauchte eine Weile, bis ich mich dem Sog seiner Erzählung entreißen konnte. Schließlich blieb ich vor ihm stehen, sah ihn an und fragte: »Ihr seid sicherlich ein weiser Mann, Vater Johannes, einer, der mehr für seinen Glauben gelitten hat, als jeder andere, den ich kenne. Und doch – eine Antwort seid Ihr mir schuldig geblieben: Was hat es mit den Alraunen auf sich? Und in welcher Verbindung stehen sie zu den Hamelner Kindern?«
    Er blickte auf, und in seinen Augen blitzten Tränen.
    »Haltet Ihr mich für wahnsinnig, Ritter Robert? Weil ich alt bin und von Geheimnissen gekostet habe, die Ihr und Euresgleichen nie kennenlernen werdet? Glaubt Ihr wirklich, ich könnte mich an Kindern vergreifen, nach all dem, was ich erleben mußte?«
    »Sagt mir, was Ihr mit den Alraunen bezweckt.«
    Er atmete tief ein. »Wenn Ihr eine Möglichkeit wüßtet, den Müttern dieser Stadt ihre Kinder zurückzugeben, würdet Ihr sie dann nicht ebenfalls nutzen?«
    »Meint Ihr damit, Ihr wollt mit Hilfe Eurer … Eurer Lehren diese Kinder neu erschaffen?« rief ich atemlos. »Großer Gott, ist es das, was Ihr vorhabt?«
    Sein Kopf fiel schwer vornüber. »Wenn es mir gelingt – ja!«
    Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. In jenem Moment muß es ausgesehen haben, als sei ich der Wahnsinnige, nicht er. Der Alte wollte in der Tat eine neue Generation von Kindern züchten. Aus

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